»Wie ein LKW, der sich durch das Kirchenschiff schiebt.«

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Fünf Jahre hat nicht nur Frankreich, sondern scheinbar die ganze Welt darauf gewartet, dass die historische Kathedrale Notre-Dame auf der Île de la Cité nach dem Brand im April 2019 wiedereröffnet wird. Zur zweitägigen Einweihung Anfang Dezember kamen mehrere Tausend Menschen und Prominente, Politiker:innen und Staatsoberhäupter. Die Kirche platzte aus allen Nähten. Sogar auf der Orgelempore saß Titularorganist Olivier Latry nicht, wie sonst, eher allein, sondern war umringt von Kamerateams und Security.

VAN: Wie war die Wiedereröffnung für Sie, Olivier Latry?

Olivier Latry: Für mich war es vielleicht etwas zu viel. Das ist nicht, was ich in Notre-Dame erwarte und kenne. Notre-Dame ist für mich das, was wir am Samstag oder Sonntag in normalen Messen machen, wie wir da die Orgel spielen, in einem normalen Kontext. Aber das war nicht normal.

Inwiefern? Was war nicht normal?

Es war schwer, mich zu konzentrieren. Ich mag es, wenn ich mich, obwohl ein paar Leute auf der Empore sind, auf meine Arbeit, auf mein Spiel konzentrieren kann. Aber jetzt waren da die vier Organisten, Leute vom Fernsehen, noch andere Journalist:innen und Sicherheitskräfte, und es war echt schwer für mich reinzukommen.

Und was machen Sie dann? Sie haben ja trotzdem abgeliefert.

Ja, aber danach hatte ich eine Grippe. Ich habe immer noch Halsschmerzen.

Am 7. Dezember, bei der Wiedererweckungszeremonie für die Orgel, haben Sie die ersten beiden der acht Improvisationen gespielt. Die erste haben Sie einfach nur mit einem liegenden Ton im Bass begonnen …

… hat man das gut gehört im Fernsehen?

Ja, es ging, wenn man sich darauf konzentriert hat.

Okay, denn das ist immer etwas schwer. Wir sollten etwas spielen, was in Verbindung mit dem Fernsehen und Rundfunk und auch für die anwesenden Leute gut funktioniert. Und da war es natürlich wichtig, dass die Leute diesen Effekt erleben und wirklich das Gefühl zu vermitteln: Das ist gerade die Orgel, die wirklich aufwacht.

Also deshalb haben Sie dieses große Crescendo gespielt am Anfang?

Ja, das Crescendo ist die Basis der Orgel. Und wir können so viele verschiedene Registrierungen nutzen – die Flöten sind die ersten Stufen des Crescendos, dann die Obertöne, Mixturen, Zungen und so weiter.

Sie hatten die Registrierung vorgespeichert, das hat man in der Aufzeichnung gesehen. War das noch von vor dem Brand oder haben Sie das Crescendo extra für die Zeremonie neu gebaut?

Das war noch von vorher. Aber ich habe ein bisschen was verändert, um es etwas subtiler zu gestalten.

Hat jeder von Ihnen eigentlich einen eigenen Slot im Instrument für seine Registrierungen?

Ja, wir haben alle einen eigenen Slot, mit unseren Namen. Wir haben einen Code, jeder einen eigenen Schlüssel, und alles ist darunter gespeichert.

Wenn ich als Gästin an Orgeln spiele, muss ich mir immer recht lang einen freien Slot suchen, wo noch nichts liegt. Und wenn ich dann da meine Registrierungen hinspeichere, sind die manchmal noch Jahre später da – irgendwie respektieren Organist:innen das untereinander.

Im besten Fall, ja, aber auch nicht immer. [lacht] Aber für diese Einweihung konnten wir nicht unsere Slots benutzen, das war zu knapp mit den vielen Wechseln.

Am 8. Dezember, dem Tag der ersten großen Messe, haben Sie sich sogar während einer Improvisation abgewechselt, so fliegend, dass man es überhaupt nicht gehört hat. Wie machen Sie das?

Einer von uns fängt an und dann setzt sich der zweite irgendwann daneben auf die Bank, übernimmt zum Beispiel erst die rechte Hand und dann die linke und dann die Füße, aber spielt in der vorherigen Sprache des Organisten weiter. Und natürlich in der gleichen Registrierung.

Ist die jeweilige Sprache der Kollegen denn so klar erkennbar, vor allem, wenn Sie sich eine Registrierung teilen? Wenn Sie unten im Kirchraum sitzen, und oben spielt einer der anderen drei – würden Sie erkennen, wer da spielt?

Ja, ich denke schon.

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