Sie war eng befreundet mit Nadia Boulanger und Igor Stravinsky, lebte zwischen Frankreich und den USA und hat ein Oeuvre vor allem an Kammermusikwerken hinterlassen. Obwohl Marcelle de Manziarly zu Lebzeiten eine bekannte Komponistin war, kennen wir sie heute kaum noch. Was ist da passiert? Und wer war diese außergewöhnliche Komponistin, Pianistin und Dirigentin? Hannah Schmidt hat sich auf die Suche begeben.
Dass über Komponistinnen und Komponisten aus der Renaissance oder dem Barock oft nur wenig bekannt ist, ist ja nicht ungewöhnlich. Sogar über Johann Sebastian Bach weiß man gar nicht so viel. Aber über eine Komponistin, Dirigentin und Pianistin, die im 20. Jahrhundert gelebt und gewirkt hat und überaus erfolgreich war, die gerade mal vor 35 Jahren verstorben ist? Über eine Zeitgenossin von Igor Stravinsky, André Breton und Erik Satie – wie kann es sein, dass wir kaum etwas über sie wissen?
Juana Zimmermann: „Das ist grade bei Frauen immer so die Frage. Also was immer zumindest nicht schlecht ist, ist, wenn jemand den Nachlass verwaltet. Und sie war weder verheiratet noch hatte sie Kinder. Es hat sich ihrer noch niemand angenommen.“
Das sagt die Musikwissenschaftlerin Juana Zimmermann. Sie hat schon vor zehn Jahren über Marcelle de Manziarly geforscht.
Okay, hier einmal zusammengefasst, was man weiß: Marcelle de Manziarly wird 1899 in Charkiw geboren und kommt als Kind nach Paris.
Sie spielt Klavier und nimmt kurz nach ihrer Ankunft in Paris Kompositionsunterricht bei Nadia Boulanger, der berühmten Komponistin und Pianistin, Dirigentin, Musikpädagogin und Theoretikerin, die auch Aaron Copland, Astor Piazzolla, Quincy Jones und Philipp Glass das Komponieren beigebracht hat: eine der einflussreichten Persönlichkeiten der jüngeren Musikgeschichte. Marcelle de Manziarly gehört zu den Schülerinnen, die Nadia Boulanger besonders fördert – und sie wird zu einer engen Freundin und Vertrauten.
Juana Zimmermann: „Marcelle de Manziarly und Nadia Boulanger hat eine lebenslange Freundschaft verbunden. (…) sie (…) ist (…) na ja, Boulanger wirklich verbunden geblieben bis ins hohe Alter. (…) irgendwann ging es Nadja Boulanger auch nicht mehr gut. Und da war Marcelle de Manziarly auch eine derjenigen, die sie weiter unterstützt haben, geholfen haben, die Korrespondenz zu führen und so weiter. Also die waren sehr eng bis zum Schluss.“
Ziemlich schnell gewinnt Marcelle de Manziarly erste Preise bei Kompositionswettbewerben, zum Beispiel den „Prix de la Ligue des Femmes de Professions Liberales“ für ihre „Sonata für Violine und Pianoforte“. Und kurze Zeit später werden ihre Kompositionen dann auch von renommierten und großen Ensembles und Orchestern aufgeführt: Die Société Nationale de Musique zum Beispiel – von der damals Nadia Boulanger die Präsidentin ist – spielt immer wieder Werke von ihr. Oder das Concertgebouw-Orchester Amsterdam. Hier feiert Marcelle de Manziarly außerdem ihren ersten großen Erfolg als Dirigentin: Der Pianist Alfredo Casella und das niederländische Spitzenorchester spielen ihr Klavierkonzert – und de Manziarly dirigiert:
1930 geht sie für ein Jahr nach Basel und studiert dort bei dem Dirigenten Felix Weingartner.
Ihre Karriere schreitet voran, Marcelle de Manziarly komponiert und dirigiert mehr und mehr – sie ist eine bekannte und erfolgreiche Frau in Paris. Sie verbringt viel Zeit mit ihrer Freundin Nadia Boulanger, und auch mit Igor Stravinsky, für den sie vermutlich sogar arbeitet. Die beiden schreiben sich Briefe, tauschen sich über fachliche und private Fragen aus.
Dann wird ihr musikalisches Schaffen jäh unterbrochen. 1940 überfällt das nationalsozialistische Deutschland Paris, ab dem 8. Juni rücken die faschistischen Truppen auf die Hauptstadt an. Frankreich zieht sich zurück, und Tausende Einwohnerinnen und Einwohner flüchten aus der Metropole. Auch Marcelle de Manziarly verlässt ihr zu Hause: Spätestens ab 1943 lebt sie in den USA, in Washington. Auch Igor Stravinsky ist in Amerika, sie treffen sich mit anderen Künstlerinnen und Künstlern in seiner Villa in Santa Barbara oder spielen gemeinsam in Marcelle de Manziarlys Wohnung Klavier. Die Mitte-40-jährige de Manziarly wird erneut Schülerin und geht zu Isabella Vengerova in die Klavierklasse. Parallel gibt sie Kammerkonzerte, unterrichtet selbst an Hochschulen und dirigiert, und immer wieder reist sie zurück nach Europa.
Marcelle de Manziarlys Musik entwickelt sich weiter. In den 1920er Jahren schreibt sie noch französisch-impressionistisch, nach innen gekehrte, tonale, stimmungsvolle Musik, teilweise neoklassizistisch angehaucht:
Später dann interessiert sie sich für serielle Musik: atonaler, verkopfter, architektonischer. Eines ihrer späten Werke, „Sphères“, ist mit Reihentechnik komponiert.
Juana Zimmermann: „Und da muss man dann sagen, da hat sie sich vielleicht auch ein bisschen emanzipiert von ihrer Lehrerin, die ja eher gegen die Zweite Wiener Schule war, und dass sie dann doch die Reihentechnik aufgriff – nicht ganz stringent und auch nicht nach den Regeln Schönbergs –, aber (…) wir haben eben diese Vorlagen, diese Notizen, wie sie ihre Reihen, also wirklich fast hundert Seiten, wie sie diese Reihen aufgeschlüsselt hat zum Komponieren.“
Richtig berühmt wird Marcelle de Manziarly dann nach ihrem Weggang in die USA, ihr Durchbruchswerk ist ihre „Sonate pour Notre-Dame“ anlässlich der Befreiung der französischen Hauptstadt von den deutschen Nazis: Musik, die von modalen melodischen Linien lebt:
Juana Zimmermann: „deswegen würd ich de Manziarly als wichtig einordnen,– dass sie irgendwie ein Punkt in diesen französischen Musiknetzwerken ist, der relevant scheint.“
Marcelle de Manziarly stirbt am 12. Mai 1989 in Kalifornien. Sie hinterlässt ein hochinteressantes musikalisches Werk und einen Nachlass, der noch viel intensiver erforscht werden sollte.