Die Poesie des Atems

Elaine Mitcheners Stücke und Performances sind Gesamtkunstwerke. Sie vereinen nicht nur im klassischen Sinn Stimme, Körper und Raum miteinander, sondern in gleichem Maß die Identität der Künstlerin: Mitchener ist eine schwarze britische Staatsbürgerin der ersten Generation, und so bringt sie immer auch ihre persönliche und politische Geschichte mit auf die Bühne: intergenerationelles Trauma, kollektive Marginalisierungserfahrungen. Das hat nicht nur eine ungeheure Wucht – sondern kann genauso wunderschön sein.

„Im Königreich der Luft
Atmet die Poesie.
Mit hundert Händen
das Spiel umarmen.
Flammen und Flüsse.
Wir brennen wir fließen
zeitentlang.
Grenzenlos sind unsere Augen
eine Sprache aus Stille und Sternen.
In Worten wohnen
aus Metamorphosen.
Wir brauchen keine Beweise
daß wir leben.“

Für den afrokaribisch-französischen Dichter und Politiker Aimé Césaire war die Poesie die grundlegendste menschliche Ausdrucksform – für ihn hing das Heil der Welt davon ab, ob die Menschen dieser Stimme, der Stimme der Poesie, Gehör schenken können oder nicht. Poesie, das sagte Césaire 1997 in einem Interview, „ist die einzige Stimme, die noch Leben spenden kann, die eine Grundlage bieten kann für den Aufbau und die Wiederherstellung der Gesellschaft.“

Warum gerade Poesie? Grundlegender als alle anderen Künste, das sagt Césaire, ist die Poesie für ihn „eine Suche nach Wahrheit und Aufrichtigkeit. Aufrichtigkeit außerhalb der Welt, außerhalb fremder Zeiten.“ Wir suchen sie seiner Theorie nach „tief in uns selbst, oft trotz uns selbst, ungeachtet dessen, was wir zu sein scheinen.“ Die Poesie, so Césaire, kommt deshalb „aus der Tiefe, mit explosiver Kraft.“

Das ist nicht immer nur schön. Es kann verstörend sein, sich der Wahrheit zu stellen.

Wenn man das zu Ende denkt, kann man sagen: Ja, die britische Sängerin und Performerin Elaine Mitchener verkörpert Poesie. Denn Poesie, das sind eben nicht nur geschriebene und gesagte Worte. Wenn Elaine Mitchener die Buchstaben, die auf einem Blatt Papier oder einem Bildschirm vor sich hin schweigen, in physische Schwingung, in Klang transformiert, wenn sie ihnen durch die Bewegung ihres Körpers eine Präsenz im Raum verleiht, wenn sie die Konsonanten in ihrem Mund zermalmt und die Vokale gurgelt, die Wörter kaut, verschluckt, zerstottert und ausspuckt, dann sucht sie nach nicht weniger als der Wahrheit, die in ihnen steckt. Diese Poesie kann man regelrecht fühlen:

O-Ton Elaine Mitchener: “Ich bin Sängerin. Ich bin Vokalistin. Ich arbeite immer mit Worten. Ich dekonstruiere sie, um die Bedeutung hinter dem eigentlichen Wort zu finden, die Emotion, und versuche das durch Klang zu vermitteln. Ich interessiere mich für Lautpoesie, auch wenn ich mich nicht als Lautpoetin bezeichnen würde, und für konkrete Poesie. Worte sind für mich wie grafische Partituren.“

(Aimé Césaire)
„When in the Heat of the Day Naked Monks Descend the Himalayas
Very powerful monster against monster
yours whose body is a statue of red woody sap whose spittle is fofa urine
mine whose sweat is a gush of caiman bile
let me dislodge them finally like a night rainy with howler monkey cries from my chest
as tender as fly agaric“
/

“Wenn in der Hitze des Tages nackte Mönche den Himalaya hinabsteigen
Sehr mächtige Monster gegen Monster
deins, dessen Körper eine Statue aus rotem Holzsaft, dessen Spucke Fofa-Urin ist 
meins, dessen Schweiß ein Schwall Kaiman-Galle ist
lass sie mich endlich vertreiben wie eine Nacht, in der es Brüllaffenschreie aus meiner Brust regnet
so zart wie Fliegenpilz”

Auf ihrem ersten Solo-Album „solo throat“ arbeitet Elaine Mitchener mit Texten von afroamerikanischen und afrokaribischen Poetinnen und Poeten – mit Zeilen von U na Marson, Kamau Brathwaite, Norman H. Pritchard und, genau: Aimé Césaire. Nichts von alldem, was wir in den Aufnahmen hören, war vorher in irgendeiner Form geskriptet oder notiert. Mitchener improvisiert im Studio über die Gedichte, die sie ausgewählt hat – und sucht auf ihre Weise nach der tieferen Bedeutung der Texte:

O-Ton Elaine Mitchener: „Ich spiele mit ihnen. Ich störe den semantischen Sinn des Wortes, des Textes, und suche an dessen Rand nach lyrischer Bedeutung und lyrischer Übersetzung (…) So sprechen die Texte zu mir zurück, und ich antworte ihnen. Ich möchte durch den Text herausgefordert werden und eine neue Erfahrung machen, um zu verstehen, was diese Dichterinnen und Dichter geschrieben haben.“

Elaine Mitchener wird 1970 im Londoner East End geboren und wächst dort als Tochter jamaikanischer Eltern auf. Zu Hause läuft Reggae und Dub-Musik in einer Lautstärke, „dass die Wände wackeln“, wie sie selbst erzählt – es sind politische Lieder, über Gott, africanism, über Freiheitskämpfe und die Zukunft. Elaine Mitcheners Eltern sind politisch, auf gewisse Weise müssen sie es sein: Als Schwarze Bürgerinnen in einem mehrheitlich weißen Land kämpfen sie mit Rassismus, mit gesellschaftlicher Unterrepräsentierung und dem generellen Gefühl unerwünscht zu sein – in der Nachbarschaft, in der Politik, in der Kirche. Ihr „eigenes Ding“ zu machen, wird für Elaine Mitchener so zu einer empowernden Erfahrung – einer Art politischem Akt.

Als Kind will Elaine Mitchener Tänzerin werden – Fernsehübertragungen von Schwanensee und anderen Balletten begeistern sie, sie mag den Sound dieser Orchestermusik, die so anders klingt als der energetische Drum and Bass von King Tubby, The Upsetters und Prince Far I. Bei diesen Produktionen sieht die Jugendliche nie Schwarze Tänzerinnen auf der Bühne, aber das schreckt sie nicht ab, im Gegenteil: Sie träumt davon, vielleicht die erste zu sein.

Als Sängerin hat Elaine Mitchener zu diesem Zeitpunkt aber bereits deutlich mehr Erfahrungen gesammelt – auf der Bühne in der Kirche, in Gottesdiensten und Messen, und sie entscheidet sich am Ende gegen den Willen ihrer Eltern dazu Musik zu studieren. Das College, sagt sie, ist zwar gut, um Freundinnen und Freunde zu finden, aber nicht für ihr Selbstbewusstsein: In einer derart kompetitiven Umgebung fühlt sie sich nicht wohl, und mehr und mehr zieht es sie in die zeitgenössische Musik und den experimentellen Gesang. Die Atmosphäre dort empfindet sie als interessierter, kooperativer, freundschaftlicher. 

Es gibt diese Momente in Elaine Mitcheners Performances, da hört man sie einfach nur atmen. Ächzen, schnaufen, wimmern, stöhnen, krächzen, man hört sie tief einatmen, hört, wie die Luft zwischen ihren Zähnen zischt, wie sie ihre Lunge füllt und auf dem Weg die Stimmbänder streift. Dabei bewegt sich die Sängerin – zuckend, pendelnd, wiegend, sie krümmt sich, zittert, geht langsam in die Knie. Man sitzt im Zuschauerraum und sieht und hört diese Performerin, diesen Menschen Elaine Mitchener auf ganz elementare Weise sein. Das ist ungewohnt, intim, beinahe unerträglich nah – und entfaltet gleichzeitig eine unglaubliche Schönheit. 

Diese Momente sind eine Liebeserklärung an den Gesang, an den Körper, an die Stimme und die Worte, die sie untersucht. Gleichzeitig verkörpern sie ein virtuoses Manifest für das Recht Schwarzen, marginalisierten Lebens. Denn hier steht nicht nur irgendeine Sängerin auf der Bühne, sondern eine Schwarze Frau. In einem Interview sagte Elaine Mitchener mal diesen Satz: „Dass ich als Schwarze, experimentelle Sängerin für zeitgenössische Musik auf der Bühne stehe, ist an sich schon ein politischer Akt.“ In einer rassistischen Welt wie der unseren ist ihr performativer Atem hochpolitisch.

Der Satz „I can’t breathe“ – „Ich kann nicht atmen“ – bedeutet kollektiven Schmerz und generationelles Trauma. Es waren die letzten Worte George Floyds, bevor er von einem Polizisten ermordet wurde, es waren die letzten Worte von Eric Garner, der 2014 von einem Polizisten erwürgt wurde, es waren die letzten Worte von Javier Amblers II, Byron Williams, Manuel Ellis, Christopher Low und Derrick Scott. Sie alle wurden von Polizisten umgebracht, erstickt. Ihre Geschichten stehen in einem langen historischen Kontinuum der systematischen Unterdrückung und Gewalt gegen Schwarze Menschen – und zwar nicht nur in Amerika.

(Una Marson: Interlude)
“Still is the night,
The great city sleeps
Wrapped in her black mantle;
The stars keep vigil
And sentries watch
Over a land
Waiting in hushed horror
Suddenly, out of stillness,
Out of silent night,
Down from the infected heights
May come death and desolation.
Meanwhile, silence,
A wakeful sleeping,
And the vigil
Of Stars
And sentries”/

“Still ist die Nacht,
Die große Stadt schläft
Eingehüllt in ihren schwarzen Mantel;
Die Sterne halten Wache
Und Wächter wachen
Über ein Land
das in stillem Schrecken wartet
Plötzlich, aus der Stille heraus,
aus der stillen Nacht,
Von den infizierten Höhen herab
mögen Tod und Verwüstung kommen.
Währenddessen, Stille,
Ein wacher Schlaf,
Und die Wache
der Sterne
Und Wächter”

O-Ton Mitchener: „In Solo Throat habe ich mit Texten von Schwarzen Dichterinnen und Dichtern gearbeitet, die besondere Bezüge haben zu meinen eigenen Interessen als Schwarze Sängerin. Zum Beispiel Una Marson, eine jamaikanische Feministin, Schriftstellerin und Sekretärin von Haile Selassie – sie hat karibische Dichterinnen und Dichter und karibische Poesie in Großbritannien durch den damals so genannten World Service auf Radio 3 bekannt gemacht (…) Und sie machte das in den 40er Jahren (in) Großbritannien, (sie) war so eine Pionierin als Schwarze Frau, die in der Zwischenkriegszeit allein nach Europa gereist ist und ihre Interessen als Schriftstellerin und als Journalistin verfolgt hat, und als jemand, die das politische und gesellschaftliche Geschehen dokumentierte. Für mich ist sie eine Ikone. Ich war wirklich fasziniert von der Art und Weise, wie sich ihr Schreiben verändert hat, je bewusster sie sich der Veränderungen in der Gesellschaft wurde, besonders mit Bezug auf Rassismus und Geschlechterungleichheit.“

Man kann ehrlich darüber verwundert sein, dass “solo throat” Elaine Mitcheners erstes Solo-Album ist. Denn sie war in den vergangenen Jahren auf sämtlichen wichtigen Bühnen zeitgenössischer Musik präsent, in der Wigmore Hall, bei der British Art Show 9, beim Festival MaerzMusik, im Centre Pompidou, bei den Darmstädter Ferienkursen und dem London Contemporary Music Festival, im Royal Opera House und bei den Berliner Festspielen und den Donaueschinger Musiktagen – sie ist Member of the Order of the British Empire und arbeitet regelmäßig mit Komponistinnen und Komponisten wie George E. Lewis und Jennifer Walshe zusammen, mit Ensembles wie der London Sinfonietta und dem Klangforum Wien. Sie gilt als „eine der originellsten und markantesten Künstlerinnen unserer Zeit“, wie der DAAD schreibt, Rezensentinnen und Rezensenten überschlagen sich seit Jahren begeistert, wenn es um Elaine Mitcheners Kunst geht: Sie verkörpere eine Schwarze Avantgarde der Postmoderne, schreiben sie, eine Gesamtkunst, die eine ganz „neue dynamische Form des experimentell-politischen Musiktheaters auf die Bühne“ bringt. Warum brauchte es so viele Jahre, bis endlich eine Aufnahme, ein richtiges, ganzes Album erscheint?

O-Ton Mitchener: „Ich bin eher eine Live-Performerin und genieße es, die Energie des Publikums aufzunehmen und Ideen live zu vermitteln. Dort fühle ich mich in einer Live-Performance-Situation am wohlsten. Es hat also lange gedauert, bis ich ins Studio gegangen bin. Ich habe in der Vergangenheit für andere Leute aufgenommen. (…) Und ich glaube, die Leute wollten, dass ich etwas mache, aber eigentlich kann man so etwas nicht überstürzen, man muss in der richtigen Geisteshaltung sein und man muss auch das Gefühl haben, dass man das richtige Material hat, das einen wirklich inspiriert. Und da meine Praxis sehr improvisatorisch ist, muss ich mich vorbereiten und das Gefühl haben, dass ich mit der Umgebung eines Studios umgehen kann, die nicht viel hergibt. Es ist nicht wirklich steril, aber es ist tot. Selbst die schönsten Studios fühlen sich tot an. Ich wollte also ein Projekt finden, das es mir erlaubt, so zu arbeiten, als wäre es eine Live-Improvisation, als könnte ich damit wieder anfangen. Ich wollte es so angehen, als wäre es ein Live-Gig, ohne dass es ein Live-Gig ist.“

Und so beginnt „solo throat“ wie ein Auftritt vor Publikum: Elaine Mitchener betritt im Geiste die Bühne, sie stellt sich vors Mikrofon, der Saal ist noch leer. Bevor die Türen geöffnet werden, testet sie den Klang:

Wir können sie nicht sehen, und trotzdem ist sie uns nah, ohne jeglichen akustischen Raum oder Puffer, direkt an unserem Ohr. Elaine Mitcheners Stimme kriecht regelrecht ins Mikrofon hinein, tief in unsere Gehörgänge, die sich anfühlen wie mit Watte ausgestopft.

Die Performerin geht auf im physischen Raum, ihre Stimme entströmt dem Körper, verschmilzt mit der zweidimensionalen Ebene der Texte, der Wörter, der einzelnen Buchstaben. Wir sind in einem Labor. Vor uns das vergrößerte Gewebe maximal verdichteter Sprache. Die Stimme und all ihre Möglichkeiten schillern unter dem akustischen Mikroskop. Die Texte beginnen fiebertraumhaft zu wabern, zu zerfließen, zu leuchten, die Worte scheinen sich zu wiegen und zu tanzen – sie werden zu einer Metapher für den Körper, der ihnen Klang verleiht:

In den Pausen und Lücken, den Aussetzern und Brüchen, all dem, was Elaine Mitchener nicht aus- oder zu Ende artikuliert, entsteht dabei eine besondere Magie. Sie sagt das Meiste ohne viel zu sagen. Vielleicht ist das der Inbegriff von Poesie.

O-Ton Mitchener: “Hierin sehe ich die Rolle der Kunst in der Welt. Die Kunst kann eine Wahrheit suchen und sie auf eine Weise aussprechen wie es ein Politiker oder eine Politikerin nicht kann. Verstehst du? Ich ermutige euch mit meiner Arbeit dazu, weiter zu hinterfragen, weiter Forderungen zu stellen, weiter nach Antworten zu suchen und über diese Dinge zu diskutieren und in eurer Arbeit zu sprechen.“

„Im Königreich der Luft/ Atmet die Poesie“, schreibt die jüdische Dichterin Rose Ausländer im Jahr 1986. Poesie, kann man daraus ableiten, zeichnet sich durch den Atem aus, aus dem sie entspringt und durch den sie lebendig wird – den Atem, mit dem eine Künstlerin wie Elaine Mitchener Worte ergründen kann, mit dem sie sie erforscht und ihren Sinn durchdringt, ihn verwandelt, ermächtigt. Mit dem sie für eine bessere Welt kämpft. Sie atmet aus, wir atmen ein.

Wir atmen aus, sie atmet ein.

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