„Lieber Jesus (…), wenn du brennst, machst du dadurch glücklich und erfreust, während du uns schlägst.“ Das klingt nicht gerade nach einem frommen Glaubensbekenntnis! Sondern eher nach einer kinky Fantasie. Jesus als BDSM-Liebhaber?! Geschrieben hat diesen Text die Komponistin und Nonne Isabella Leonarda Was ist da los?
Text von Isabella Leonarda:
“Werte Schläge, werte Glut,
wie seid ihr lieblich für mich.
Nichts tu mir außer der Glut,
lieber Jesus, so rufe ich zu dir.“
O-Ton Julie Comparini: „Man erwartet ein gewisses Maß an sublimierter Sexualität und Masochismus und alles, was man da hat. Aber was Leonarda schreibt, ist wirklich, also selbst für diese Verhältnisse, ziemlich extrem.“
Die Sängerin Julie Comparini beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Isabella Leonarda und ist fasziniert:
O-Ton Julie Comparini: Jesus und Maria erscheinen für sie als echte Personen. Jesus als natürlich der schönste und tollste Liebhaber aller Zeiten, Maria als liebevolle Mutter oder Kriegerin, also die, die für die gerechte Sache und für uns kämpft. Also Maria als Schutzengel sehr viel, Jesus als Liebesobjekt, aber Jesus ist es auch, der uns manchmal peinigt und uns Wunden und Schmerz zufügt. Und das ist ganz toll und das lieben wir. (…) Also (…) das Ausmaß an schwerwiegendem Masochismus ist selbst für die Zeiten bemerkenswert. Und das (…) sind fast hundert Solomotetten, von denen fast alle solche Texte haben.“
Isabella Leonarda wird 1620 in der italienischen Stadt Novara geboren, als Tochter eines adeligen Vaters und Doktor der Rechte – ein gesellschaftlich angesehener Mann. Auch andere Mitglieder ihrer Familie bekleiden hohe Ämter, vor allem in der Kirche. In einer solchen Familie ist es kein Wunder, dass die junge Isabella ins Kloster geschickt wird – damals ist es tatsächlich so üblich, eine der Töchter an die Kirche zu geben. Mit 16 Jahren tritt sie also in einen Konvent des Ursulinen-Ordens ein.
Die Ursulinen sind ein Lehrorden, für damalige Zeiten also, könnte man sagen, relativ liberal eingestellt. Zu dem Kloster gehört eine Mädchenschule, in der Isabella Leonarda Musikunterricht bekommt, Geige spielen und Singen lernt – und komponieren.
O-Ton Julie Comparini: „Man darf nicht denken, dass die Frauen in dem Kloster irgendwie hinter Gitter eingesperrt waren, das waren sie überhaupt nicht. Die haben an dem Leben in der Stadt teilgenommen, die haben an der Musik in der Stadt teilgenommen, und das ist das Milieu, wo Leonarda ihr ga nzes langes Leben verbracht hat, in diesem Kloster. Sie hat bis siebzehnhundertvier gelebt, vierundachtzig Jahre, also ein sehr langes Leben, sehr produktives Leben als Lehrerin, als Komponistin, und genoss auch einen sehr guten Ruf.“
In ihrem Kloster steigt Isabella Leonarda sogar ziemlich schnell in der Hierarchie auf: Auf den Titelblättern ihrer Sammlungen op. 6 bis op. 11 nennt sie sich selbst noch „madre“, also Schwester – ab ihrem op. 12 aber schon „madre superiora“, also Oberin. Spätestens ab 1686, kann man vermuten, also mit 50 Jahren, leitet sie den Konvent. Und sie ist „magistra musicae“, also selbst Musiklehrerin.
Isabella Leonarda ist eine der ersten Frauen überhaupt, von denen reine Instrumentalstücke überliefert sind. Bis Mitte des 17. Jahrhunderts hatten nur wenige von ihnen überhaupt die Möglichkeit, das, was sie geschaffen haben, zu veröffentlichen, zu verlegen oder aufzuführen. Und: Die Musikgeschichte hat diese Frauen und ihre Kunst systematisch verschwiegen. Isabella Leonardas Kompositionen werden aber sogar schon zu ihren Lebzeiten verlegt: 20 Sammlungen erscheinen zwischen 1670 und 1700 als Drucke und werden höchstwahrscheinlich auch aufgeführt.
Isabella Leonarda schreibt viele Stücke für tiefe Stimme. Das ist für die Zeit, in der sie gelebt hat, ungewöhnlich: Im Barock sind vor allem hohe Stimmen angesagt – Knaben, Soprane, Tenöre, Kastraten. Leonarda aber umgibt sich im Kloster natürlich die meiste Zeit mit anderen Frauen, das heißt sie kennt, versteht und schätzt die Vielfalt ihrer Stimmen und Färbungen.
O-Ton Julie Comparini: „Sie schreibt manchmal in Tonarten oder moduliert in Tonarten, die es im siebzehnten Jahrhundert eigentlich nicht gibt, also die in der Theorie der Zeit nicht vorgesehen sind. Also in solchen Sachen und in ihr ihr Nutzung von Chromatik war sie war sie sehr eigen und benutzt das immer, möglichst viel Ausdruck durchzubringen.“
Mit ihren gut 200 überlieferten Werken gehört Isabella Leonarda zu den produktivsten Komponistinnen und Komponisten ihrer Zeit. Aus Leonardas großem Oeuvre beeindruckt Julie Comparini besonders die Solomotette „Donate Caeli Solatium“ – auch weil die Erfahrung, die Leonarda darin beschreibt, eine universelle ist:
O-Ton Julie Comparini: „Es ist ein Hilfeschrei an Jesus, an Gott, an wen auch immer, der nicht erhört wird und eine Bitte nach Trost und nach Hoffnung. (…) Und das Halleluja zu ‚Donate Caeli‘ ist weder triumphal Halleluja noch glücklich. Es ist ein verzweifelndes Halleluja, wo man merkt nach diesem ganzen Hilfeschrei, nach dem ganzen Ruf nach Hören und nach Hoffnung, dass es immer noch nicht gelöst ist und dass sie sehr verzweifelt ist. Und das hat sie in sehr virtuosen Koloraturen auskomponiert, was ich finde perfekt den Affekt des Stücks weitergibt.“
Frauen hatten zu Isabella Leonardas Zeit in der Theologie – teilweise ja bis heute – nicht viel bis gar nichts zu sagen. Es kann also gut sein, dass die Komponistin ihre selbst verfassten Texte wie eine Art Sprachrohr genutzt hat, um ihre Bedürfnisse und die anderer Frauen im Kloster zu artikulieren und ihnen eine Öffentlichkeit zu geben. Dank ihrer Solomotetten haben wir heute einen extrem raren Einblick in das Seelenleben einer Nonne zu dieser Zeit, in ihre Religiosität und Spiritualität. Für die Kulturgeschichte hat Isabella Leonarda ein unglaublich wichtiges Zeugnis hinterlassen.