Die klassische Musik ist eine Bastion der europäischen Kulturtradition. Wohl keine Figur verkörpert ihre Komplexität, aber auch die männliche, weiße Dominanz so sehr wie der Dirigent. In einer Gesellschaft, in der macht- und genderkritische Diskurse immer lauter werden, stehen die klassische Musik als subventionierte Kunstform und ihre Symbole in der Schusslinie: Wie kommt es, dass noch immer so wenige Dirigent*innen große Karriere machen? Wie kann ein Musikmachen der Zukunft aussehen, das Hierarchien überwindet und Zugänge ermöglicht? Und wie bewerten Expert*innen die Situation der Klassik hinsichtlich Rassismus, Klassismus und Sexismus? Die Beiträger*innen liefern Erklärungen und bündeln Ideen für eine Überwindung hegemonialer Strukturen.
Das Buch „Dirigent*innen im Fokus. Warum die klassische Musik fundierte Machtkrik braucht“ ist im November 2023 bei transcript erschienen. Ideengeber für die Publikation und Mitherausgeber ist das Frauenkulturbüro NRW.
Warum klassische Musik Machtkritik braucht
Gespräch im WDR über das Buch „Dirigent*innen im Fokus. Warum die klassische Musik fundierte Machtkritik braucht.“
Leseprobe: Schlusswort
Hannah Schmidt
Angriff auf ein Symbol
Diskurse verlaufen nicht linear. Manchmal bewegen sie sich schleppend. Manchmal machen sie eine Biegung und scheinen wieder genau an dem Punkt herauszukommen, an dem sie schon vor Jahren waren. Andere Diskurse werden hingegen nur in gewissen Szenen geführt, obwohl es längst an der Zeit für eine große Öffentlichkeit wäre. #MeToo und #BLM sind zwei Paradebeispiele für Debatten, die bereits Jahrzehnte vor ihrem internationalen Durchbruch geschwelt hatten – ganz davon abgesehen, dass die Probleme, die sie adressieren, seit Jahrhunderten die Lebens- realität von Menschen in Gesellschaften prägen.
Nun könnte man auch den lauter werdenden Diskurs um die Unterrepräsentation von Frauen am Dirigent*innenpult als eine Folge der #MeToo-Bewegung betrachten, und sicherlich hängen beide Debatten und Entwicklungen auch miteinander zusammen. Einige Diskurse, und das ist ebenso wahr, verlaufen parallel zueinander.
Die Diskussion über Gleichberechtigung am Pult ist älter, als manchen vielleicht bewusst sein mag – ihre Geschichte reicht, je tiefer man eintaucht, desto länger in die Vergangenheit zurück: Bereits 2013, vor zehn Jahren, schrieb Christine Lemke-Matwey mit Blick auf weibliche Karrieren am Pult in der Wochenzeitung DIE ZEIT: »Es ist an der Zeit, die Geduld zu verlieren.« (Lemke-Matwey 2013) Wiederum fünf Jahre früher führte Corina Kolbe in der gleichen Zeitung ein Interview mit Susanna Mälkki, die bereits da betonte, »in den Medien« würden Vorurtei- le gegen Frauen am Pult »leider viel zu sehr aufgebauscht«. Anders als noch vor 30 Jahren würden die Musiker*innen im Orchester Dirigentinnen »wesentlich leichter akzeptieren« (Kolbe 2008). Gleichzeitig merkt man ihr im Interview an, dass sie lieber über ihre Kunst als über ihr Gender sprechen möchte. Elf Jahre später formuliert sie diesen Wunsch noch immer: »Der Diskurs zur Gleichberechtigung in der Musik ist natürlich wichtig, keine Frage«, sagte sie 2019 dem BR. »Aber ich würde gern ein- fach mal nur über Musik und meine Arbeit sprechen.« (Leporello 2019, BR Klassik)
1994 beschrieb Eleonore Büning in einer Rezension das England-Debüt der damals 33- jährigen Simone Young: Zwar habe vor ihr bereits Sian Edwards am Pult des Covent Garden gestanden, doch sei Young tatsächlich diejenige, die in der Geschichte der großen europäischen Orchester als erste Frau prominent dirigierte. Büning schließt: »Seit etwa fünf Jahren sind die Dirigentinnen weltweit im Vormarsch, die Erfolgsstory der Simone Young liegt also in gewisser Weise im Trend.« (Büning 1994) Wiederum zehn Jahre früher machte der Name Elke Mascha Blankenburg den Weg durch die Feuilletons: »Ich bin stets in der Situation, eine Ausnahme zu sein«, wird die Dirigentin in der ZEIT zitiert. »Ob sie mich nun belächeln oder ernst nehmen, nie ist es selbstverständlich, daß ich da oben stehe.« (Klett 1984) Kein Wunder also, dass nicht nur sie, sondern andere Dirigentinnen, deren Karrieren schon Jahrzehnte dauern, gegen das Thema eine Art Allergie entwickelt haben (vgl. Tošic 2020).
Zu schließen, dass dieser Diskurs erst seit 40 Jahren existiert, wäre allerdings falsch. Schon Richard Strauss wird ein Zitat zum Thema nachgesagt: »Eine Berockte und 100 Mann zum Unisono bringen – das wär’ a Gaudi« (Peter 2020) – dabei existierte zu seinen Lebzeiten der Beruf des Dirigenten, wie man ihn heute kennt, tatsächlich noch gar nicht so lange. Felix Mendelssohn-Bartholdys Antrittskonzert im Gewandhaus in Leipzig am 4. Oktober 1835 gilt gemeinhin als eines der ersten in Deutschland, bei dem im modernen Sinne ein Dirigent mit Taktstock ein Orchester leitete – ein stilbildender Moment. Man könnte also sagen: Der Diskurs über den gleichberechtigten Zugang zum Pult ist nicht viel jünger als der Beruf des Dirigenten selbst.
Etwas mehr als 50 Jahre nach Mendelssohns Leipzig-Konzert nämlich stand die 27-jährige Mary Wurm vor den damals noch komplett männlich besetzten Berliner Philharmonikern und gab den Einsatz für ihre Konzertouvertüre op. 19 in e-Moll. Für das Konzert hatte die Komponistin, Pianistin und Dirigentin das Orchester gemietet – ein so genanntes »Solistenkonzert«, wie sie damals für Orchester eine wichtige Einnahmequelle bildeten (vgl. Berliner Philharmoniker 2023). Auch die in Wien lebende Komponistin Lise Maria Mayer engagierte die Berliner für die Aufführung eines eigenen Werks: 1929 dirigierte sie ihre Sinfonie Kokain – ein Konzert, das dem Kritiker der Signale für die musikalische Welt allerdings überhaupt nicht gefiel (vgl. ebd.). Es gab jedoch Dirigentinnen, von denen auch damals schon die Presse überzeugt war: Eva Brunelli leitete am 8. November 1923 als erste Frau bei den Berlinern ein abendfüllendes Programm, woraufhin die Signale ihre »musikalische Sicherheit und künstlerische Intelligenz« lobten (vgl. ebd.). Auch andere Frauen wie Ethel Leginska, Joanídia Sodré, Marta Linz, Elly Ney und Antonia Brico dirigierten in den 1930er Jahren große Orchester in Europa und der Welt und brachten es zu entsprechender Bekanntheit (vgl. ebd.). Nicht zuletzt dirigierte Nadia Boulanger 1983 als erste Frau das Boston Symphony Orchestra.
Warum also ist der Diskurs in gut 130 Jahren nicht weitergekommen? Warum titeln Zeitungen nach wie vor, Frauen seien »wie Dynamit in einer Männerdomäne« (Kolbe 2019), warum suggerieren Überschriften einen »Geschlechterkampf im Orchestergraben« (Österreichische Musikzeitschrift 2015)? Warum fragen Journalist*innen noch immer, ob Frauen anders dirigieren als Männer (vgl. Lauschner 2023, Randall 2022)? Der Grund ist leider: Weil Diskurse sich an der Realität entlang entwickeln – und die Realität transformiert sich in diesem Bereich besonders schleppend. »Unsere Beobachtung an der MDW [Universität für Musik und darstellende Kunst Wien] ist, dass vielmehr hervorragende Dirigierstudentinnen nach dem Studium auf ihrem Karriereweg eher ›beruflich verlorengehen‹ als ihre männlichen Kollegen«, zitiert Der Standard die Rektorin der Wiener Musikuniversität, Ulrike Sych (Tošic 2020). Zwar studieren laut Deutschem Musikinformationszentrum (miz) mittlerweile 37 Prozent Frauen Orchesterdirigat (vgl. miz 2022), doch finden sich diese 37 Prozent nicht vor den Orchestern wieder. Stand Februar 2023 gibt es in Deutschland vier weibliche Generalmusikdirektorinnen, bei 129 öffentlich finanzierten Orchestern – das sind 3 Prozent. Wo sind die restlichen 34?
Wie so oft liegt die Antwort im System: Das Patriarchat ist bereits in Homers Ilias bezeugt – einem 2700 Jahre alten Text. In seinen Nomoi (Gesetzen) schreibt Platon etwa 300 bis 400 Jahre später: »[D]ies Geschlecht [der Frauen] ist […] doch daran gewöhnt vielmehr verborgen und im Dunkel zu leben, und es würde daher, wenn man es mit Gewalt als Licht hervorziehen wollte, dem Gesetzgeber allen mögli- chen Widerstand entgegensetzen und gewiss in diesem Kampfe Sieger bleiben.« (Platon 1862: 110) Die Gesellschaft in Europa ist von ihren frühesten Anfängen an patriarchal geprägt – von sozialen Bedingungen zwischen Menschen also, die, wie Heidi Hartmann 1978 schreibt, eine Interdependenz und Solidarität zwischen Männern etablieren, die es ihnen ermöglichen, Frauen zu dominieren (vgl. Meuser, 2010: 81). Diese Machtstruktur äußert sich in der Lebensrealität aller im Patriarchat lebenden Menschen bis heute, im Privatleben wie auch auf dem Arbeitsmarkt: Der Gender-Pay-Gap zeugt von ihr, die ungleiche Verteilung unbezahlter Care-Arbeit oder die sogenannte »Leaky Pipeline« – je höher die Qualifikationsebene, desto geringer der Frauenanteil (vgl. Centrum für Hochschulentwicklung 2022).
Anders herum existiert das Phänomen, dass ab einem Frauenanteil von 60 Prozent die Gehälter in ganzen Berufsgruppen und Branchen sinken: »Kellner, Friseur, Apotheker, Verkäufer oder Grundschullehrer – früher waren das alles männlich geprägte Berufe«, schreibt Felicitas Wilke in der ZEIT und zitiert die Soziologin Angelika Wetterer: »In all diesen Fällen kam es vor oder während der Feminisierung zu einem teils erheblichen Statusverlust dieser Berufe.« Wissenschaftler*innen sehen vor diesem Hintergrund jedoch keine Entwertung von ganzen Berufen, sondern eine »generelle Entwertung von Frauen im Beruf« (Wilke 2018).
Im Bereich der klassischen Musik – und besonders im Bereich der künstlerischen Leitung in diesem Kontext – kommt mit dem ›Genie‹ noch ein weiterer Aspekt hinzu. »›Genie‹«, sagt der US-amerikanische Musikwissenschaftler Phil Ewell der ZEIT, »ist ein Code für ›weiß‹ und ›männlich‹«. Man müsse anerkennen, so Ewell, »dass der Kanon nicht gottgegeben ist, sondern ein menschliches Konstrukt. Das Gleiche gilt für die musiktheoretischen Regeln, die etwa aus Bachs Werken abgeleitet wurden. Definiert und geschrieben haben all das weiße Männer, die damit die Deutungsmacht ergriffen haben. Was sie definierten, gilt als ästhetischer Standard für die Musik – und er gilt als überlegen.« (Schmidt 2021) Überlegen nicht nur allem ›Weiblichen‹, sondern auch allem Außereuropäischen, explizit dem nicht-weißen Außereuropäischen. Patriarchat und Rassismus, so Ewell, greifen in der klassischen Musik mustergültig ineinander – und das wiederum erkläre die Un- sichtbarkeit von Frauen, trans und nichtbinären Personen und von People of Color (vgl. ebd.).
Der ›Maestro‹ am Pult ist, führt man diesen Gedanken weiter, das menschgewordene Symbol für eine Kultur, mittels derer sich diejenigen, die über die größte gesellschaftliche Macht verfügen, in ihrer Macht bestätigen und die über Generationen gewachsenen Machtverhältnisse vor sich selbst legitimieren. Die Musikwissenschaftlerin Anke Steinbeck fasst diese Dynamik in einem Bild zusammen: »Der grauhaarige, große, hellhäutige Dirigent wird als Gott im Frack verherrlicht«, schreibt sie (dpa/FR 2015). Sobald diese symbolische Position also von einem*einer Vertreter*in einer Gruppe eingenommen wird, die innerhalb der herrschenden Machtverhältnisse eine untergeordnete Rolle zugesprochen bekommen hat, gerät zwar nicht gleich das System ins Wanken – jedoch eines seiner Gleichnisse, seiner Sinnbilder, eine seiner Geschichten.
Diskurse, das analysierte bereits Michel Foucault, sind Plattformen, auf denen es um Wissen und um Macht geht. Macht beeinflusst Diskurse, indem Machtbeziehungen Wissensbestände und Wissensformen anregen (vgl. Diaz-Bone 2018: 50) – wie es auch Phil Ewell in seiner Theorie andeutet. Mit jeder weiteren Phase des feministischen und antirassistischen Diskurses brechen Marginalisierte Stück für Stück die weiße, männlich-patriarchale Diskurshoheit auf und »eignen sich gesellschaftliche Deutungs- und Definitionsmacht an« (Wichterich 2021). Je mehr Dirigentinnen es also gibt und je sichtbarer und dominanter sie werden, desto mehr schwindet auch eine wichtige Bastion der patriarchalen Machtdemonstration. Natürlich ist da der Widerstand seit 130 Jahren enorm und stark – einerseits, weil auf einer öffentlichkeitswirksamen Plattform die herrschenden Machtverhältnisse nicht nur verhandelt, sondern sogar symbolisch gebrochen werden, und andererseits natürlich, weil diejenigen, die dort um die allabendliche Legitimierung ihrer Stellung bangen, nach wie vor mächtig sind.
Frauen – und mit ihnen alle Marginalisierten – würden, wie Platon vermutete, »gewiss in diesem Kampfe Sieger bleiben« (Platon 1862: 110). Warum, das begründet der Philosoph nicht – möglicherweise war ihm aber bewusst, dass die dominanten Machtverhältnisse keines natürlichen Ursprungs sind, sondern einzig und allein durch die Un- terdrückung mindestens einer Hälfte der Menschheit aufrechterhalten werden. Damit das funktioniert, braucht der Unterdrücker Verbün- dete unter den Unterdrückten – das formuliert Simone de Beauvoir in ihrem Essay Für eine Moral der Doppelsinnigkeit. Ihren Ausführungen zufolge müssen sich Unterdrückte deshalb »ihrer Situation stellen, das heißt sich der Unterdrückungs- und Ausschlussmechanismen bewusst werden. […] Dabei zeigt sich, dass die jeweiligen Probleme nicht nur individuell, sondern vielmehr gesellschaftlich bedingt sind.« (Simone de Beauvoir, zit.n. Moser 2002: 232)
Mit dieser Bewusstwerdung beginnt jede Form der Antidiskriminierungsarbeit. Der Diskurs über Dirigentinnen (und mit ihm verwoben über jegliche Form der machterhaltenden Diskriminierung im Bereich der klassischen Musik) steckt wohl auch deshalb an vielen Stellen noch in den Kinderschuhen: Vielleicht ist gerade erst der Moment erreicht, an dem langsam die Erkenntnis in den Boden sickert, dass diese Kunstform ein massives Problem mit Gleichberechtigung hat. Auf dieser Grundlage kann es weitergehen – und ab jetzt hoffentlich stringent und geradeaus.
Literatur
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Büning, Eleonore (1994): »Pfundskerl, Prachtmädel«, in: ZEIT vom 8.4.1994, online abrufbar unter: https://www.zeit.de/1994/15/pfund skerl-prachtmaedel
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