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Acht Stunden Zugfahrt reichen nicht bis zum Ziel, denn der Arsch der Heide hat noch ein Hinterland: Wer die Donaueschinger Musiktage erleben will und keines der raren im Ort selbst gelegenen Hotelzimmer erwischt, ist auf eine treue Gang aus Locals angewiesen, die vier Tage lang im wechselnden Schichtdienst mit schwarzen Sprintern die vielen Kilometer zwischen Bahnhof, Konzertorten und den diversen Pensionen im Umland zurücklegen. Die eigenen Shuttlestunden werden bald zum Ritual, die Landschaftsblicke, Lebensgeschichten und Festivalanekdoten zur Metapher. Man ist hier ja nicht nur räumlich abgelegen, an der Peripherie, sondern auch ästhetisch. Denn in ihrer über 100-jährigen Geschichte haben die Musiktage – nicht anders als der Rest des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens – vor allem als Echoraum für genialische Männer fungiert, die sich für ihre jeweiligen kompositorischen Wagnisse gegenseitig auf die Schultern klopften. Spätestens seit MeToo aber spürt die Szene, dass sich etwas ändern muss, wenn das Ganze den Bezug zur Welt behalten will. Kurzum: „Shuttles matter!“
Donaueschingens Festivalleiterin Lydia Rilling will sich diesem Weltbezug nun endlich ernsthaft stellen, sozusagen mit der Pistole auf der eigenen Brust. Die 44-Jährige ist seit zwei Jahren im Amt, das Programm 2024 trägt also ihre alleinige Handschrift. Rilling hält ihre Ansagen vor den großen Konzerten fließend dreisprachig und hat gezielt Komponistinnen und Musikerinnen eingeladen, deren Realitäten und Ideen bisher noch keine oder nur eine minimale Bühne im Donaueschinger Diskursraum bekommen haben: nichtweiße, queere, weibliche und junge Perspektiven. Jetzt sind sie alle nicht nur irgendwie mitgemeint, sondern richtig da, vorhanden – und sogar in der Überzahl. Das tut dem Festival gut.
Sicher nicht ganz neu, aber selten so präsent: die ausgeklügelte Sound- und Surroundtechnik in fast jedem der rund zehn Konzerte. Die Technik macht den physischen Raum – in Donaueschingen sind das die klassischen Sporthallen – so intensiv erfahrbar wie vielleicht noch nie. Dass man unter einem hochgeklappten Basketballkorb sitzt und es nach Gummi und Socken riecht, lässt sich eben besser ausblenden, wenn der Fokus brav nach vorn gerichtet ist, dorthin, wo die Musik immer schon gespielt hat. Jetzt spielt sie überall. Hin und wieder mag dieses Konzept nicht ganz funktionieren, dann zerfasern die Publikumsströme, dann geht die Aufmerksamkeit flöten. An manchen Plätzen dröhnt es zu laut, andere sind optisch zu weit weg vom kleinteiligen Geschehen. Das ist aber alles egal, solange die Elektronik richtig gut klingt. Und das tut sie.
Interessant ist Claudia Jane Scroccaros Vokalstück On the Edge, schon weil die Komponistin es ohne konkrete Ankündigung im Foyer beginnen lässt, um den Konzertsaal dann nach und nach mit einzubinden. Prompt ergibt sich die eine oder andere Rangelei zwischen ungeduldig drängelnden Besuchern und der Security an den Türen. Das ist insofern bezeichnend, als es in Scroccaros Musik um gesellschaftlich und politisch abgedrängte Menschen geht: um Frauen, die in Auffangunterkünften einiger Pariser Vororte leben und hoffen, eines Tages wieder sozial Fuß fassen zu können. Massive, fast dreckige elektronische Bässe schieben sich da unter die Stimmen des SWR-Vokalensembles, wie ein Fundament aus traumatischen Erinnerungen.
Den Boden für eine Konzerterfahrung wie diese bereitet George E. Lewis, der seit 50 Jahren mit algorithmischen Verfahren experimentiert und gleich im ersten Orchesterkonzert eine Wand eintritt (im übertragenen Sinn). Für The Reincarnation of Blind Tom lässt der US-Amerikaner eine KI Klavier spielen und setzt den 84-jährigen Saxofonisten und Freejazzer Roscoe Mitchell daneben. Gemeinsam erwecken sie nun den Sklavenjungen Blind Tom zum Leben – einen unsichtbaren Vertreter all jener, die es kaum je auf eine solche Bühne schaffen würden und auch nicht ins bürgerliche Publikum. Freie Improvisation verschmilzt hier mit scheinbar willkürlich kombinierten Themen- und Motivfragmenten im Orchester. Man fragt sich: Klingt so dekoloniale Klassik? Der fehlende Stuhl vor dem Flügel bleibt als Sinnbild jedenfalls lange haften.
Überhaupt verbinden kollektive Marginalisierungserfahrungen viele der Werke: Wenn sich in Hannah Kendalls Tuxedo: Between Carnival and Lentdie Performerin Rosie Middleton beim Singen langsam die Hand vor den Mund schiebt und so ihre eigenen Worte abwürgt, dann stehen mit ihr all die anderen Frauen auf der Bühne, deren Stimmen zum Schweigen gebracht wurden und immer noch werden. Es bebt regelrecht, wenn Kari Watson in Enclosures die Improvisationen der Musikerinnen in den elektronisch verstärkten Klang ihres eigenen Brustkorbs einbettet, ihn als Wummern aus allen Richtungen in den Saal schickt. Und in Sara Glojnarić’ Ding Dong Darling! wirbelt nicht nur pure Freude durch die Partitur (dank toller Hochgeschwindigkeitssechzehntel!), sondern auch queerer Stolz und Trotz. Rhythmisch befeuert hört man Referenzen auf Chapelle Roan und Charli xcx oder Analogien zum Trance und House der 1990er-Jahre, und alles zusammen bekommt am Ende nicht nur den Orchesterpreis, sondern formuliert einen Anspruch: Das hier könnte die zukünftige Aura unserer Orchestermusik sein.
Zurück im Shuttle stellen sich ein paar Fragen, denn das andere Donaueschingen gibt es schon auch noch. Vor welchem Hintergrund genau zitiert Mark Andre eigentlich aus dem Evangelium, warum singen bei Michael Finnissy nur Männerstimmen vom Krieg, während die Frauen mehr zur Dekoration herumstehen, und wieso braucht Enno Poppe eine geschlagene Stunde, um das Zusammenspiel von zehn Drumsets zu erforschen? Boys will be boys? Immerhin ist vieles davon musikalisch unterhaltsam.
Dank Carola Bauckholts konzisem down to earth-Werk My Light Lives in the Dark für Kontrabass und Elektronik – das in Donaueschingen leider nur im Stadtpark spielt, nicht im Wald – wird einem klar: Es kann das Richtigste der Welt sein, sich im Dunkeln mit weißen Buffalos auf eine matschige Wiese zu stellen und 17 wunderschöne Minuten lang einfach mal die Klappe zu halten. Der Arsch der Heide und dessen Hinterland haben nämlich einen Vorteil: Dort ist es still. Und dunkel. Und vor den Eingängen wartet immer ein Shuttleservice, der einen weiterbringt.
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Foto: © Ralf Brunner/SWR