Vor den letzten Konzerten des Konzerthausorchesters Berlin hat sich die neue Chefdirigentin Joana Mallwitz nicht mit einem Taktstock, sondern zuerst mit einem Mikrofon auf die Bühne gestellt. Das Video von einer dieser Ansprachen ist bei TikTok und Instagram viral gegangen. In ihrer Rede verurteilt sie die Kürzungen im Berliner Kulturhaushalt und warnt davor, dass Häuser wie das Konzerthaus Berlin im schlimmsten Fall irgendwann die Türen schließen müssen, wenn weiterhin an der Kultur gespart wird. Aber ist sie die richtige, um an dieser Stelle die Stimme zu erheben – als Großverdienerin im Klassikbetrieb?
Die Kulturszenen in deutschen Großstädten wie Berlin, München oder Köln sind gerade in einer Schockstarre. Ja, alle hatten sich auf schmerzhafte Kürzungen eingestellt – aber dass es so schlimm kommen würde, das hat viele überrascht. In Köln zum Beispiel stehen Ensembles wie Concerto Köln, die Cologne Jazz Week oder Institutionen wie das AchtBrücken-Festival auf dem Spiel: Für das Jahr 2026 hat die Stadt einfach kein Geld mehr dafür vorgesehen. Null Komma Null Euro.
Ja klar gehen da Leute auf die Barrikaden, vor allem die, die betroffen sind. Und es ist unglaublich wichtig, dass gerade diejenigen, die über große Reichweite und Einfluss verfügen, ihre Stimme erheben: große Festivals und große Häuser, die freie Ensembles und Künstler engagieren, und einzelne Künstlerinnen, die zu einem breiten Publikum sprechen. Deshalb: Danke, Joana Mallwitz, dass sie diese aufrüttelnde Rede hält.
O-Ton Mallwitz aus der Rede: „Wir werden die vielen Krisen der heutigen Welt nicht bezwingen, wenn wir nicht diese Orte haben, an denen wir im Zuhören vereint sind. Die Zeit, in der wir Musik nicht nur als Einzelne, sondern als Gesellschaft bitter benötigen, ist jetzt.“
Sie hat Recht: Die Kulturschaffenden, wir alle, müssen jetzt zusammenhalten. Und gleichzeitig spüre ich eine Diskrepanz: nämlich dann, wenn ich daran denke, wie viel Dirigentinnen und Dirigenten wie Joana Mallwitz verdienen.. Die Häuser halten sich zwar insgesamt sehr bedeckt, was sie ihren Führungskräften zahlen – Dirigentinnen genau wie Intendanten auch! Aber über manche weiß man dann eben doch, was am Ende des Monats auf dem Konto landet: Francois-Xavier Roth soll im Jahr rund 900.000 Euro verdient haben. Und Berühmtheiten wie Kirill Petrenko oder Christian Thielemann bewegen sich vermutlich bei über einer Million.
Böse gesagt: Die 450.000 Euro, die jetzt dem AchtBrücken-Festival in Köln für ein Jahr gestrichen werden, die verdienen Daniel Barenboim oder Joana Mallwitz vermutlich in ein paar Monaten und haben diese Peanuts auf dem Girokonto liegen.
Das ist nicht die Schuld von Joana Mallwitz oder irgendeiner anderen Spitzendirigentin da draußen – darum geht es auch gar nicht. Vielmehr hat mich ihre Rede nachdenklich gemacht: Müssten wir nicht viel grundsätzlicher über Verteilungsfragen im Kulturbetrieb und innerhalb der Szene sprechen? Das Argument, dass „der Markt“ halt „so ist“ und die Kultur genauso funktioniert wie alle anderen Märkte auch, lasse ich dabei nicht gelten. Wo, wenn nicht in der Kultur, könnte man ein alternatives Modell ausprobieren?
Kein einzelner Mensch auf der Welt braucht alle vier Wochen 80.000 Euro auf dem Konto zum Leben – aber ein kleines oder mittelgroßes Festival, das Ensembles und Menschen eine Bühne gibt und auf sehr vielfältige Weise zum kulturellen Reichtum einer Stadt beiträgt, kann mit dieser Summe womöglich mehrere Monate lang arbeiten.
Es geht hier nicht um Grabenkämpfe, nicht darum, die einen Kulturschaffenden gegen die anderen auszuspielen. Alle Menschen, die in der Kultur arbeiten, sollten gut verdienen und von diesem Verdienst gut leben können. Perspektivisch betrachtet kann aber viel mehr und nachhaltiger Kunst realisiert werden, wenn wir, alle zusammen, den Spitzengehältern den Kampf ansagen. Am liebsten Seite an Seite mit einer Stardirigentin wie Joana Mallwitz.
(c) Marco Borggreve