Dunkelheit, sagt die Sopranistin Julia Bullock, sei weder negativ noch positiv. Dunkelheit sei ein Ort, an dem Menschen ihre Geheimnisse und Sehnsüchte bewahrten. Walking in the Dark nennt die Sängerin ihr Debüt-Album – sie wandelt darin durch die Nacht, schweift durch ihre Vergangenheit und erinnert sich an die Zeit der Lockdowns zurück. Das Album präsentiert Werke von der Singer-Songwriterin Connie Converse und dem Jazzpianisten Billy Taylor, widmet sich Sandy Dennys Who Knows Where the Time Goes? und dem Traditional City Called Heaven.
An den Anfang stellt Bullock ein Statement: Oscar Brown Juniors Brown Baby wurde in den 1960er-Jahren zu einer Hymne afroamerikanischer Identität und Ermächtigung. Das Baby sollte stolz und groß durchs Leben gehen, Freiheit und Gerechtigkeit erfahren. Bullocks Stimme schwingt warm in ihren untersten Registern, wenn sie singt: Brown baby, I want you to speak up clear and loud. Ihr Album zeichnet nicht nur persönlich-biografisch eine Musikerinnenentwicklung nach, sondern schließt Bullocks Lebensrealität als schwarze Frau explizit mit ein. Die Künstlerin als politischer Geist, zweifelnd, strauchelnd, hoffend – und auf sich gestellt.
Ihre Stimme bleibt ein Phänomen: So sonor und zärtlich sie in Brown Baby fließt, so energetisch zuckt sie in John Adams’ brutalem Memorial de Tlatelolco und bettet die Hörerin in Who Knows Where the Time Goes? auf Wolken. Die ganze Wandlungsfähigkeit zeigt sich im ästhetischen Anker des Albums, dem 15-minütigen Knoxville: Summer of 1915 von Samuel Barber. Da leuchten alle Facetten ihres Soprans – als riefe sie die Phrasierungen und die feinsten dynamischen Nuancen ab wie die Register einer Orgel.
Alle anderen Werke des Albums arrangiert Bullock um Samuel Barber herum. „Träumen – Distanz – Geschichte – Zuhause – Suchen – Verlieren – Erinnerung“, so fasst die Sängerin selbst die Gedanken und Themen zusammen, die für sie zentral sind. Ein Hörerlebnis, das, wenn man sich ihm hingibt, fast etwas von dem eines Schubertschen Liederzyklus hat.
Julia Bullock: Walking in the Dark (Nonesuch)
Foto: © Rozette Rago/The New York Times/Redux/laif