Der gängige Begriff von Musik ist der von einer akustischen Kunst. Von „organisiertem Klang“ ist die Rede, im Bereich des „Hörbaren“. Musik ohne Ohren ist wie Bildende Kunst ohne Augen, denken wir. Ein Gespräch mit Paul Whittaker stellt dieses Denken auf den Kopf. Denn er ist taub. Und studierter Musiker.
Dieser Mann vereint in sich zwei für hörende Menschen unvereinbar scheinende Gegensätze – und hilft seit 1988 anderen Gehörlosen dabei, ebenfalls einen Zugang zur Musik zu finden. Seit Mai 2012 gibt Paul Whittaker gemeinsam mit dem Mahler Chamber Orchestra Musik-Workshops für gehörlose Kinder (siehe Extrakasten). In weniger als einer Stunde Gespräch stellt Paul im Prinzip alles auf den Kopf, was ich über Musik zu wissen glaubte. Und am Ende zweifle ich an meiner eigenen Wahrnehmung.
Bei dem Interview in einem französischen Café in Berlin-Charlottenburg ist Stephen dabei, Pauls Gebärdensprach-Dolmetscher. In einer Stunde müssen beide los, noch am Abend geht der Flieger nach England zurück. Sie haben sich Essen bestellt. Es ist bereits dunkel, die Straße vor der großen Fensterfassade glänzt vor Nässe, aus den Lautsprechern klimpert leiser Barpianojazz. Die Fragen liest Paul mir meist von den Lippen ab, er antwortet laut – in melodiösem, schnell gesprochenem Englisch mit einem leichten britischen Akzent. Manchmal spricht er etwas undeutlich, ist insgesamt aber gut zu verstehen.
Du sprichst von Geräuschen. Aber wie nimmst du Musik wahr? Immerhin hast du Musik studiert.
Paul: Als ich mich entschieden hatte, Musik zu studieren, und bei verschiedenen Hochschulen anfragte, war die Reaktion stets dieselbe: „Sie sind taub. Taube Menschen können keine Musiker werden. Blöde Idee. Studieren Sie etwas anderes.“ Selbst als ich am Wadham College in Oxford mein Studium dann tatsächlich begonnen hatte, reagierten meine Kommilitonen oft verstört. Wenn ich mich vorstellte als: „Hi, ich bin Paul, ich bin taub und ich mache hier das Musik-Examen“, konnte ich jedes Mal richtig sehen, wie ihre Gesichter lang wurden.
Das war das erste Mal, dass ich mich hinsetzen musste und lange überlegen musste: Wie höre ich Musik? Warum mag ich sie? Und wie erkläre ich es den Leuten? Das ist schwer. Leute, die taub sind, nehmen ja trotzdem etwas wahr, sie sehen vielleicht nicht alles klar, aber sie können trotzdem eine Vorstellung haben. Und je mehr sie sich mit Musik beschäftigen, desto besser können sie sie sich auch vorstellen. Für mich ist Musik machen das Natürlichste auf der Welt. Musik ist da, und ich brauche sie, sie ist wie eine Droge, ich muss sie einfach um mich haben.
Und wie hast du Musik machen gelernt? Du spielst Klavier und Orgel. Wie hast du geübt?
Klavier zu lernen war einfach, verglichen mit anderen Instrumenten. Dadurch, dass die Saiten gespannt sind, die Tasten gesetzt sind, muss ich nicht intonieren, wie beispielsweise bei einem Streich- oder Blasinstrument. Ist das Klavier verstimmt, lasse ich den Klavierstimmer kommen – es ist nicht meine Schuld. Es ist einfach zu lernen, welche Note zu welcher Taste gehört, das ist sehr ähnlich wie bei der Orgel. Mein Orgellehrer an der Universität war zuerst ein bisschen überfordert damit, jemanden zu unterrichten, der taub ist, aber ich habe ihm gesagt: „Es ist einfach! Sie spielen, ich gucke.“ Ich lerne sehr viel über das Visuelle.
Was hast du davon, Musik zu machen, wenn du sie nicht hörst?
Hören ist nützlich. Aber es ist nicht das Wichtigste. Es hat mal jemand zu mir gesagt: „Musik ist Emotion ausgedrückt in organisiertem Klang.“ Nun – ich bin taub, ich weiß nicht, was Klang ist. Aber ich fühle trotzdem, wenn ich Musik wahrnehme. Gehen Sie in ein Konzert mit 200, 2000, 20.000 Besuchern und fragen Sie die Leute anschließend: Jeder wird etwas anderes gehört und wahrgenommen haben. Ich erinnere mich an ein Erlebnis, das ich 1985 mit einem Freund hatte. Er war genau wie ich vollständig taub, und ich habe ihn in ein Konzert mitgenommen in London, Beethovens Fünfte. Er hatte vorher noch nie einen Konzertsaal von innen gesehen oder ein Orchester. In dem langsamen Satz, an der Stelle, wo die Hörner diese aufsteigende Melodie spielen, habe ich zur Seite geguckt und gesehen, wie konzentriert er war, wie er all dem gefolgt ist, und ich erinnere mich, wie er nach dem Konzert in seinem Stuhl saß. Er war wie ein Stück geschmolzene Schokolade und er schwärmte: „Das war wunderschön.“ Seitdem weiß ich, was Musik für eine Kraft haben kann.
Du gehst viel in Konzerte. Kannst du die ja manchmal sehr feinen Unterschiede verschiedener Interpretationen wahrnehmen? Wie machst du das?
Ja, ich kann die Unterschiede wahrnehmen. Einen Teil nehme ich wahr über Vibration, aber oft nehme ich auch die entsprechende Partitur mit ins Konzert. Ich lese Partituren wie ich Bücher lese. Ich sehe im Konzert, was der Dirigent macht, ich sehe, was die Musiker machen, also all die musikalischen Elemente, die man visuell wahrnehmen kann. Manches fühle ich auch, aber es gibt natürlich Dinge, die ich vermisse. Wenn ich die Partitur nicht dabei habe, bin ich was das Erkennen von Details angeht sehr eingeschränkt.
Was aber ist Musik, wenn sie offenbar nicht nur hörbarer Klang ist, wenn sogar Taube sie wahrnehmen und mögen können?
Sie ist definitiv mehr als Klang. Musik kann alles sein, was du in ihr sehen möchtest. Sie kann dich glücklich machen, traurig, wütend, du kannst dich, wenn du dich schlecht fühlst, an dein Instrument setzen, und danach bist du ein anderer. Musik machen ist wie eine Beziehung, ja, Musik machen ist wie Sex. Sie ist die Befreiung urweltlicher Emotionen, das gleiche, weshalb Menschen tanzen – es ist etwas in dir. Musik besteht aus Melodie, Harmonie, Form, Artikulation, Tonhöhe – aber all diese Dinge haben kein Leben, solange du es ihnen nicht einhauchst, indem du sie in Musik verwandelst. Aber ich möchte gerne dich als hörenden Menschen fragen: Was ist Musik? Was würdest du mir sagen?
Eine Frage, auf die ich zunächst keine Antwort habe. Die Stunde ist schneller vorbei als wir dachten. Es wird eng, Paul und Stephen müssen das Café beinahe Hals über Kopf verlassen, Verabschiedung, Dankeschön – ich bleibe etwas verdattert zurück, packe meine Sachen. Einen Tag später schreiben wir E-Mails. Stephen schickt mir eine Audiodatei. „Wir haben versucht, mit einem Programm zu simulieren, wie Paul hört“, schreibt er. „Einhundertprozentig ist es nicht, aber es kommt so nahe heran, wie es technisch im Moment möglich ist.“ Erstaunlich: Paul hört offenbar mehr als ich dachte. Aber es ist immer noch nahe an der absoluten Stille. Noch erstaunlicher: Mit diesem Gehör ist er Musiker geworden.
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