Alles auf der Kippe

Über die aktuelle Situation der freiberuflichen Musiker*innen, Ensembles und Festivals.

Manchmal fallen einem Dinge erst dann auf, wenn sie plötzlich nicht mehr da sind: Wir haben Kultur und Versammlungen als allgegenwärtige Normalheit betrachtet. Jetzt aber wurden aus Angst vor der schnellen Verbreitung des Coronavirus der Reihe nach Konzert- und Opernhäuser geschlossen, Veranstaltungen und Festivals abgesagt, sogar Gottesdienste. Das ist aber nicht einfach nur für die potenziellen Besucher*innen seltsam und vielleicht schade. Denn etliche Kulturschaffende, vor allem freiberufliche Künstler*innen, Ensembles und kleinere Veranstaltungsorte, Agenturen und Festivals, stehen infolge dieser Entscheidungen vor dem Ruin.

Vermutlich, glaubt Cellist Isang Enders, wird es eine Zeit vor und eine nach dem Coronavirus geben: »Vielleicht wird man es später als einen Einschnitt betrachten wie den 11. September 2001. So hat jedes Jahrzehnt sein Armageddon.« Er selbst spürt die Auswirkungen schon seit gut fünf Wochen. Da sollte er in Chengdu in der chinesischen Provinz Sichuan ein Schumann-Konzert spielen, doch das sagte die Stadt ab – noch lange bevor in Europa entsprechende Entscheidungen getroffen wurden. Ein Konzert weniger, das sei ungünstig, aber in Ordnung, »zumal Januar und Februar grundsätzlich schlechte Monate sind.« Die Weihnachtszeit mit ihren Weihnachtskonzerten trägt viele Musiker*innen finanziell bis in den März, wenn die Festivals starten, immer mehr, bis zur Hochsaison im Sommer. Die Absagen bis Ende April bedeuten für Enders nun insgesamt zehn ausgefallene Konzerte und damit zehn fehlende Honorare. Viele erleben gerade ähnliches: Bei Pianist Kai Schumacher sind es bis Ende April elf Konzerte, bei Sopranistin Sarah Maria Sun drei Konzerte, zwei Meisterkurse und ein Vortrag, bei Opernsängerin Eleonore Marguerre elf Vorstellungen – gleiches bei ihrem Mann: »Zusammen bedeutet das bei uns den Verlust von einem Drittel unseres Jahresgehalts«, sagt sie.

Sie alle sind bisher jedoch noch verhältnismäßig weich gefallen: Entweder haben sie gut vorgesorgt, zusätzliche Lehraufträge an Universitäten oder Partner*innen mit festem Einkommen. »Auf meinem Konto sind im Moment 2.000 Euro«, sagt Sarah Maria Sun. »Das ist alles, was ich habe – mein gesamter Besitz. Damit komme ich über zwei Monate. Danach hätte ich ohne meinen Mann ein großes Problem.« Doch sie alle kennen Kolleg*innen, die bereits jetzt nicht wissen, wie sie im kommenden Monat ihre Miete und ihr Essen bezahlen sollen. »Was ich immer wieder feststelle, ist eine erschreckende Unkenntnis bei vielen Kollegen über die Möglichkeiten der Versicherung und privaten Vorsorge«, sagt Eleonore Marguerre. »Viele wissen nicht einmal, dass man Kindergeld oder Elterngeld kriegt. Da wünsche ich mir, dass das mehr in der Ausbildung gemacht wird.« Oder aber von den Arbeitgebern vorgegeben.

Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) hat vergangenen Freitag einen »Leitfaden für Freischaffende« veröffentlicht. Darin heißt es unter anderem: »Versuchen Sie, sich auf eine Verschiebung des Veranstaltungstermins zu einigen« und, falls das nicht gehe, »vertraglich vereinbarte Ausfallhonorare geltend« zu machen oder »diese nachträglich mit dem Veranstalter auf Kulanzbasis zu vereinbaren.« Das Problem: Häufig gibt es gar keine Verträge, in denen so eine Klausel stehen könnte, und falls doch, befinden sich viele Freie gar nicht in der Position, diese Verträge mit auszuhandeln. »Die Abwälzung auf den Arbeitgeber ist dann möglich, wenn die Formulierungen im Vertrag individuell mit dem Künstler ausgehandelt wurden«, sagt Eleonore Marguerre. »Das werden sie aber häufig nicht.« Spielstätten zu verklagen, trauen sich indes nur die wenigsten – aus Angst, nicht wieder engagiert zu werden.

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