„Ernsthaft, jeden Abend?“

2020 ist kaputt. Schon jetzt. Die Bayreuther Festspiele wurden abgesagt und das große Mahlerfestival in Amsterdam, sowieso Tausende große und kleine Konzerte und etliche Opernvorstellungen, das große Beethovenjahr ist bisher ein Jahr ohne Musik. Viele Musiker*innen sitzen in ihren Wohnungen und bangen um ihre Existenz, und sehr viele, ob sie nun existenziell getroffen sind oder nicht, versuchen sich irgendwie anders zu beschäftigen. Die Pianistin Sophie Pacini verlässt ihr Haus auch nur in Ausnahmefällen und verbringt deshalb viel Zeit an ihrem Privatflügel, in ihrer »Werkstatt«, wie sie sie nennt. Übt, reflektiert, übt. Das Musiker*innensein geht ja weiter. In der Community ist ein gewisser Trotz spürbar, der Wunsch, einfach so gut es geht so weiterzumachen wie bisher – und das äußert sich vor allem in überall auftauchenden Streaming-Videos in Sozialen Netzwerken. Tun wir uns damit einen Gefallen?

VAN: VIELE MUSIKER*INNEN STREAMEN ›JETZT ERST RECHT‹ TÄGLICH KONZERTE AUS IHREN WOHNZIMMERN. RETTET SICH MUSIK DAMIT ÜBER DIE CORONA-LEERE HINWEG?

Sophie Pacini: Im Gegenteil. Es gibt viel mehr Live-Musik als zuvor und teilweise völlig ungefiltert. Ich rufe Facebook schon kaum mehr auf, weil es mich total überspült: Hier spielt einer einen Bach-Satz, dort trällert jemand anderes eine unfertige Serenade, plötzlich ist überall Work in Progress sichtbar. Ich frage mich: Ist das eine Ausrede, um sich 24 Stunden lang selbst zu porträtieren? Bevor ich an die Öffentlichkeit gehe, braucht es doch einen ästhetischen Anspruch. Bei diesen gestreamten Hauskonzerten frage ich mich aber jedes Mal: Würdest du das wirklich so im Konzert spielen? Die Interpretation, in dieser Tonqualität? Ernsthaft, jeden Abend? Warum?

ALSO FINDEST DU, DASS DIE KUNST DARUNTER LEIDET?

Ja klar. Gerade wir Pianist*innen gehen doch sonst ins Konzert und verlangen, dass Klaviertechniker*innen da sind, die das Instrument zur Perfektion bringt, dass wir uns darauf ausdrücken können. Wir fahren vorher hin, spielen uns ein, werden eins mit dem Instrument, um etwas Einmaliges im Konzert zu reproduzieren. Unsere Hausflügel, auf denen wir jeden Tag stundenlang herumhämmern, sind oft alles andere als gut in Schuss. Gerade Beethoven ist zum Beispiel ein Komponist, der im Konzert besonders wirkt – diese Emotionen, dieses Beben, das durch den Boden geht, das dich in den Füßen erfasst. Wenn ich mich jetzt an meinen Wohnzimmerflügel setze, im Schlumpfgewand, kann ich mich gar nicht so in Spannung versetzen wie im Konzert. Ich weiß ja auch gar nicht, wo der Rezipient ist – sitzt der vielleicht gerade auf dem Klo? Es ist unter diesen Umständen total schwierig, Kunst auf höchstem Niveau zu machen.

ABER FINDEST DU NICHT, DASS DIE WALDSTEINSONATE AUF SOCKEN MIT BESEN IM HINTERGRUND NICHT AUCH EINEN GROSSEN CHARME HABEN KANN

Nein, mich hat das irgendwie noch nie begeistert. Wenn wir bedenken, dass die Kunst, die wir machen, bevor sie zu Papier gebracht wurde, komplett durchdacht wurde – da ist nichts dem Zufall überlassen, das ist aufs Dichteste komponiert, alles hat eine Aussage. Es geht darum, sich zu erlauben, loszulassen – das tust du im Konzert, aber zu Hause lässt du anders los.

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