„Vom Sinn der Klänge“ – Buchrezension

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Schon zu Beginn der über 800 Seiten klingt es an: In unserer vom digitalen Dauerdröhnen bestimmten Gegenwart hat der Hedonismus über den Intellekt gesiegt – der Markt bestimmt den Erfolg, nicht mehr die Qualität; die Ikonen der Zeit sind nicht mehr Bach und Mozart, sondern gewalttätige zugedrogte amerikanische Popstars, die statt Musik zu machen nur noch „dröhnen“ und „stöhnen“, die Kinder zu „Streetgang-Kumpels“ und „Disko-Schlampen“ werden lassen, und deren Arbeit und Lebensweise von den Feuilletons zu allem Überfluss auch noch ernst genommen und besprochen wird – Seite an Seite mit der altehrwürdigen ‚wahren‘ Kunst. 

„Denn alle Medien und Märkte behandeln Madonna, Lady Gaga, Elton John, den Rapper Eminem oder was immer die aktuelle Hitliste hergibt genauso wie Bach, Beethoven, Mahler oder Verdi.“ (S. 22)

Zumindest malt Klaus Peter Richter die kulturelle Gegenwart in diesen düsteren Tönen – und nimmt das zum Anlass mit diesem Chaos einmal ordentlich aufzuräumen. Eine „kritischen Musikgeschichte“ ist nun das Ergebnis, wie er im Titel verspricht.

Diese „Musikgeschichte“, die dann auf mehreren Hundert Seiten folgt, ist allerdings höchst unkritisch. Richters Reise beginnt im Römischen Reich, geht weiter im „glanzvollen Alexandria“ der Antike und bei den ersten Chorälen, arbeitet sich vor ins Mittelalter, vom gregorianischen Choral zur frühen Mehrstimmigkeit, über ars antiqua und ars nova nach Notre Dame, streift Klangarchitektur und erste Bühnenspektakel, besucht die Geburtsstunde der Oper und die Emanzipation der Instrumentalmusik, analysiert Generalbass und Kontrapunktik, Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Schubert, Verdi, Wagner, und kommt über Strauss und Schostakowitsch zu den Avantgarden und Schönberg und schließlich zu Messiaen, Stockhausen, Lachenmann, Ives, Poppe, Nono, Rihm, Schnebel, Holliger – kurz gesagt: Diese Musikgeschichte ist die konzentrierte Zusammenfassung eines durchschnittlichen Musikstudiums, beziehungsweise: Sie erinnert stark an bereits existierende Standardwerke zur europäischen Musikgeschichte aus den letzten Jahrzehnten.

Was dieses Buchs allerdings zusätzlich leistet, ist eine Kontextualisierung der Musik in die europäische Kunst- und Ideengeschichte. Da kommen dann nicht nur Walter Benjamin und Friedrich Nietzsche vor, sondern – auch hier – der gesamte etablierte Kanon philosophischer Denker und Theorien von der Antike bis ins 20. Jahrhundert: Kant, Schopenhauer, Hegel, Horkheimer, Heidegger, Adorno, Foucault – im Grunde lernen wir also auch hier nichts Neues.

„Der zentrale(…) Dreh- und Angelpunkt (der kunstphilosophischen Auseinandersetzungen) ist zunächst das Problem des ›Bewusstseins‹, das sich nicht nur für die Ästhetik als unentrinnbare Hypothek abendländischen Denkens erweist. Denn sie nimmt alle ästhetischen Fragestellungen bis heute in Geiselhaft: Wo ist die ›Schönheit‹ angesiedelt – im Subjekt oder im Objekt?“ (S. 229)

Je mehr sich die Erzählung der Gegenwart nähert, desto klarer tritt dann aber doch ein gewisses Unbehagen hervor: erst als Widerspruch zu Adorno und seiner „Kritischen Theorie“, später dann, daraus gewissermaßen resultierend, als leise Kritik an politischer Kunst und lautere Kritik an einem von Richter grundfalsch verstandenen Gender- und Diversitätsdiskurs. Außerdem an Künstlicher Intelligenz, und sowieso: an der „doppelten Spaßgesellschaft“. Klaus Peter Richter ist zwar davon überzeugt, dass es natürlich auch in der Antike Unterhaltungsmusik gab, Starkult, Sex and Drugs – aber, 

„Kurz gesagt: Man amüsierte sich auf einem anderen Niveau.“ (S. 25)

Hier kommen wir nun zu einer grundlegenden Problematik dieser Erzählung: Das Buch tarnt sich als wertfreie ideengeschichtliche Abhandlung, wirkt aber im Grunde wie der Versuch die kulturelle Überlegenheit der westeuropäischen Musik und Philosophie zu beweisen. Nicht nur die aufgeblasene Schreibe und der gesamte intellektualistische Sound des Textes tragen dazu bei, sondern ganz klar formulierte Prämissen. Da ist die westeuropäische Musiktheorie zum Beispiel keine „er-fundene“, sondern laut Richter eine „ge-fundene“ Wahrheit, eine, Zitat, „singuläre musikalische Errungenschaft des abendländischen Geistes.“ Bach und alle anderen – übrigens ausschließlich Männer – sind nicht nur, selbstverständlich, „Großmeister“ und „Genies“, sondern werden über collagierte Zitatflächen auch immer wieder semantisch in die Nähe von Göttern gerückt. Ihr „Oeuvre“ ist „universal“ und ihre Kunst von einer beispiellosen „Empfindungstiefe“. 

Beethoven hat demnach etwas hinterlassen, was Richter als „die größte ‚menschliche Musik‘“ bezeichnet wissen will. Kurz gesagt: Diese „Musikgeschichte“ hat einen klaren Gottkomplex.

Von all dem überzeugt zu sein wäre an sich aber nicht weiter schlimm, wenn es nicht argumentativ dazu dienen würde, eine Fallhöhe herzustellen zur, salopp gesagt, ‚verdummten‘, egoistischen, aller emotionalen Tiefe unfähigen Gegenwart, in der dieses Höchste, das den „Weltsinn“ erkennende traditionelle Erbe scheinbar mit Füßen getreten wird. 

„Will (ein Komponist heute) (…) den höchsten Möglichkeiten entsprechen wie sie in der abendländischen Musikgeschichte Ausdruck gefunden haben, dann wird er sich an ihren Vermächtnissen messen lassen müssen.“ (S. 812)

Dieses Fazit ist in einer globalisierten Welt und einer diversen Gesellschaft nichts weniger als anmaßend. Europäische Klassik ist toll, aber sie hat ja nicht die musikalische Qualität an sich gekapert.

In diesem Sinne hat das Buch einen gewissen musealen Wert: Es reproduziert mustergültig die westeuropäische Selbsterzählung der letzten Jahrhunderte von einer Gesellschaft, die die intellektuelle, künstlerische und emotionale Vollendung des Menschen verkörpert. Vielleicht ist das Buch eine Reaktion auf die (anscheinend auch in Klaus Peter Richters Kreisen) präsenter werdenden Theorien und philosophischen Systeme, die genau diese Selbsterzählung sehr überzeugend infrage stellen. 

Das Buch „Vom Sinn der Klänge. Eine kritische Musikgeschichte“ von Klaus Peter Richter ist bei Königshausen & Neumann erschienen und kostet 58 Euro.

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