Schwanengesang

Schon seit 30 Jahren, sagt Olivier Latry, also eigentlich seit er an der Pariser Kirche Notre-Dame Titularorganist wurde, wollte er an der dortigen Orgel Bach aufnehmen. Es ist eines dieser Meister-Instrumente von Aristide Cavaillé-Coll, mit mittlerweile 115 Registern, mehr als 8000 Pfeifen und seit den 70er-Jahren einer elektrischen Traktur, die Klangkombinationen erlaubt, von denen der visionäre Orgelbauer im vorletzten Jahrhundert wohl nie hätte träumen können. Es ist nicht leicht, auf diesem spätromantischen Riesen polyphone, vielschichtige und teilweise hochfiligrane barocke Musik zu spielen, das wusste auch Latry und beschloss: Wenn schon Bach in Notre-Dame, dann muss man es anders machen als auf einem Barockinstrument. Ganz anders.

Ende März erschien das Album dann, das er im Januar in der Kathedrale aufgenommen hatte, am 29.3.2019 luden sie es bei Spotify hoch – etwas mehr als zwei Wochen, bevor im Dachstuhl der Kathedrale ein verheerendes Feuer ausbrach und Teile des gotischen Gebäudes zerstörte, seinen Innenraum verwüstete und die kleinere Chororgel auf der Seitenempore auffraß. Latry erfuhr von der Katastrophe aus der Ferne, auf Konzertreise in Wien, und er betete, wie wohl alle anderen, die das Unglück verfolgten, dass nicht noch mehr passieren würde, dass der Brand die Schätze in der Kirche, dass er die große Orgel verschonen würde.

Wie durch ein Wunder tat er das auch, nur wird das Instrument wohl für mindestens fünf Jahre nicht spielbar sein, zumindest so lange nicht, bis die enormen Vibrationen, die es auslöst, den dünn gewordenen Mauern nichts mehr anhaben können. Latrys Aufnahmen, berühmte und genauso auch kleinere Bach-Werke, Choräle, Toccaten, Fantasien, Fugen – sie sind das vorerst Letzte, was von der Orgel und ihrem Klang in dem revolutionären hellen, hohen, schlanken Raum geblieben ist. Aber nicht nur das ist ein Grund, für „Bach To The Future“ dankbar zu sein.

Selbst wenn nichts passiert wäre, wenn Notre-Dame wie immer still und groß auf der Île de la Cité stünde und täglich 30.000 Touristen in ihr ein- und ausgehen würden, selbst dann wären diese Aufnahmen ein wahrer Schatz. Latry, der seine Orgel seit nun 34 Jahren kennt, alle drei Wochen an ihr Messen spielt und des Nachts an ihr übt, weiß genau, was ihr steht, und zwar nicht nur, was ihr ganz okay steht, sondern was ihr irrsinnig gut steht. Als wär er mit ihr wie mit einer alten Dame in der eigenen Garderobe auf die Suche gegangen und hätte ihr im gemeinsamen, liebevollen Ritual nur die schönsten Kleider und Accessoires herausgesucht und sie so kombiniert, dass dem überwältigten Partygast die Kinnlade herunterfällt, wenn sie dann mit gemächlichen Schritten die breite Marmortreppe heruntergestiegen kommt – so, oder so ähnlich zumindest. Die Orgel zeigt sich in diesen Aufnahmen als prächtige, wilde Schönheit, die in Werken wie der Toccata und Fuge d-Moll oder großen Passacaglia und Fuge c-Moll in mehr als den erdenklichen Lichtern und Farben zu schillern beginnt.

… weiterlesen auf niusic.de