Lieber unperfekt

veröffentlicht am 10. April 2017 auf niusic.de

Wenn wir ins Konzert gehen, wollen wir gute Musik hören. Machen Musiker Fehler, ist das für viele Besucher erst einmal etwas Negatives. Manchmal passiert es aber, dass das ein Konzerterlebnis sogar bereichert. Was ist Perfektion in der Musik? Eine Spurensuche.

Es passierte vor etwa zwei Monaten in der Dortmunder Reinoldikirche: Ein Laienchor und ein Laienorchester sangen und spielten Karl Jenkins‘ Friedensmesse „The Armed Man“, ein Stück für die Opfer des Kosovokrieges, polierte Betroffenheitsmusik, plakativ, einfallslos und kitschig. Doch die Art, wie Chor und Orchester das Stück musizierten, machte es zu einem ergreifenden musikalischen Erlebnis – denn sie scheiterten technisch daran. Der Gesang war wie der eines Kinderchores: schüchtern, unsicher und verhalten. Intonation und Rhythmik waren unsauber, einigen Instrumentalisten brach im Solo der Ton.

Das auszusprechen, wirkt angesichts der Tatsache, dass es sich um Laienmusiker handelte, äußerst unfair, und jeder professionelle Musikkritiker vermeidet das. Doch an dieser Stelle war genau diese technische Unperfektheit, das Zittrige, das Unsichere und Furchtsame an der Interpretation das, was diese Aufführung zu einer wirklich ergreifenden gemacht hat. Es war, als würde einem Menschen, der Furchtbares erlebt hat, beim Berichten darüber die Stimme wegbrechen. Das war kein verlogenes First-World-Wehklagen mehr über Zustände ferner Länder, von denen der Klagende nichts versteht, sondern das war nachempfundenes Miterleben, es war: echt. Aber gleichzeitig eben alles andere als musikalisch perfekt.

Perfektion als Maßstab

Dabei ist Perfektion, beziehungsweise die perfektionierte musikalische Technik, das, was in positiven Musikkritiken vermutlich am häufigsten gewertet, was als Maßstab angelegt wird. Klar, es ist ja auch leicht darüber zu schreiben. Technische Perfektion ist „schwarz-weiß“, „messbar“, wie der Dortmunder Kapellmeister und stellvertretende Generalmusikdirektor Motonori Kobayashi sagt, „es gibt richtig und falsch“. Wenn ein Musiker mehrmals falsch spielt, gilt das gemeinhin als Minuspunkt, als Dilettantismus, als Konzentrationslosigkeit, das Publikum ignoriert es im besten Falle, fühlt sich aber vielleicht missachtet, betrogen, ärgert sich unter Umständen über die Fehler. Doch dass eine Interpretation durch Unperfektheit, durch Fehlerhaftigkeit nicht leiden muss, sondern sogar gewinnen kann, ist offenbar genauso möglich!

Wir sehen einen Helden straucheln

In seinem Aufsatz „Technisches Versagen als integraler Bestandteil des musikalischen Kunstwerks“ schreibt Heinz von Loesch 1995, es bewege „uns zutiefst, wenn Maria Callas am Ende eines langen Opernabends in Lissabon die Todesszene der Violetta nicht nur mit verlöschender Stimme, sondern auch mit derangierter Intonation, also schlicht unsauber singt“ oder „wenn es in der großen Oktavenpassage aus Liszts ‚h-Moll-Sonate‘ in Horowitz‘ berühmter Aufnahme von 1932 von falschen Tönen nur so wimmelt“. Von Loesch wagt eine These: „Glauben wir nicht, in Horowitz‘ falschen Oktaven einen Helden straucheln zu sehen?“ Vielleicht sei es „gerade das technische Versagen, das diese Dimensionen offenbart, Dimensionen, die einer makellosen Wiedergabe verschlossen bleiben müssten“.

Von Loesch ist es dabei aber wichtig zu betonen, dass die großen Dames et Messieurs, über die er schreibt, technisch sehr wohl in der Lage sind, die entsprechenden Passagen fehlerfrei zu spielen oder zu singen. Dilettantismus könne man ihnen also nicht unterstellen. Wäre das aber wirklich so ausschlaggebend? Dürfen sich nur diejenigen Musiker „berührende“ Fehler erlauben, die sie eigentlich technisch zu vermeiden in der Lage wären? Ist der hinter einem Fehler stehende Dilettantismus schon Ausschlusskriterium für seine eventuelle positive, ergreifende Wirkung?

Für Motonori Kobayashi ist technische Perfektion ganz schlicht „ein Mittel“, wie er sagt, die Basis, auf der er als Dirigent seinem Ideal einer Interpretation näher kommen kann. Wenn er sich in den Proben nicht an Intonation, Rhythmik und Zusammenspiel aufhalten muss, sondern direkt in die Gestaltung gehen kann. „Mein Ideal ist es, etwas auszusagen“, sagt Kobayashi. „Es gibt auch Aufführungen, die sind geschliffen, perfekt musiziert, mit wenigen oder keinen Fehlern – aber lassen mich kalt.“ Wo verläuft dann aber die Grenze? Wann wird eine technisch perfekte Interpretation auch aussagekräftig? Und wo bleibt es schlicht eine fehlerhafte?

Das A um 23 Uhr

„Ich glaube, in erster Linie müssen die Musiker selbst berührt sein von der Musik“, sagt Kobayashi. „Das ist bei Profis manchmal schwer, die nach der fünfzigsten Wiederholung vielleicht keine Lust mehr haben. Es ist eben ihre Verpflichtung, an diesem Abend um 23 Uhr ein A zu treffen. Es ist eine schöne Verpflichtung, aber es bleibt eine Verpflichtung.“ Bei Laienensembles gebe es dieses Problem nicht. „Für die meisten dieser Musiker ist es ein Hobby, eine Freizeitbeschäftigung, etwas, das sie nur aus Leidenschaft tun“, sagt Kobayashi. So sei auch das, was ein Profi-Orchester mache, nicht automatisch immer besser als das, was ein Laien-Orchester mache.

Vielleicht hält es sich da die Waage: Technische Perfektion – das planmäßig Inszenierbare – auf Profi-Seite und Begeisterung für und emotionale Verbindung zur Musik – das eben nicht Inszenierbare – auf Laien-Seite. Offenbar, so war es jedenfalls beim Dortmunder Jenkins-Konzert, kann große emotionale Einbindung vonseiten der Musiker große technische Schwierigkeiten in der Gesamtwirkung aufwiegen, mehr noch: Sie wertet sie auf. Dem Ringen um Perfektion, das jeden Musiker, ob Laie oder Profi, antreibt, wohne das Scheitern immer schon inne, schreibt von Loesch, das eine sei ohne das andere nicht denkbar. Und wo der Kampf mit technischen Schwierigkeiten entsprechend zum ästhetischen Gegenstand werde, könne man auch dem Scheitern Kunstcharakter zuschreiben. Sagte man den technisch gestrauchelten Musikern am Ende des Konzertes aber, dass es bewegend war, weil technisch so viel schief ging, wären vermutlich 99 Prozent von ihnen durch diese Aussage verletzt.

So versteht es Tontechniker Andrew Levine vor allem als seine Aufgabe, mit seinen Aufnahmen etwas zu schaffen, woran die Musiker nach dem Konzert lange Freude haben. Die Musiker selbst wollen ihr Scheitern nämlich nicht hören. „Ich versuche auch immer, die Generalprobe mitzunehmen“, sagt Levine im Gespräch. „So kann ich Stellen, die bei der Aufführung schief gehen, im Nachhinein mit dem Material aus der Generalprobe reparieren.“ Die CDs, die später in den Handel gehen oder die Levine für die Musiker aufnimmt, sind polierte Aufnahmen, mit Schnitten und Korrekturen. Sie blenden die Rückseite des Strebens nach Perfektion, das mögliche Scheitern, einfach aus. Und damit ist ein Nerv der Gesellschaft getroffen: Scheitern ist ein Tabuthema.

Aus seiner Arbeit kann Levine spontan zahlreiche Beispiele nennen, wo er wann nach welchen Aufnahmen in welcher Form Korrekturen vorgenommen hat – sei es die Einspielung eines Organisten, der sein Repertoire direkt sequentiell, takteweise wiederholt einspielte, dass Levine nur noch die besten Teile aussuchen musste. Sei es der Komponist, der nach einer Einspielung seiner Komposition die falschen Töne des Pianisten mit Levines Hilfe und einer Software nachträglich korrigierte. Oder eben der Fall der Opernsängerin, die sich in der Senta-Ballade aus Wagners „Fliegendem Holländer“ „durchschrie“, weil sie vor der Aufführung eine scharfe Suppe gegessen hatte, und Levine auf ihre Bitte hin in der Korrektur sogar in die Komposition eingriff, indem er die besonders schlimmen Passagen durch Teile aus der Ouvertüre ersetzte. „Das war keine CD, die in den Handel gegangen ist“, sagt er etwas entschuldigend. „Das Orchester hatte die Aufnahme in Auftrag gegeben, und am Ende waren alle glücklich mit der Version.“ Das Problem bei einer Aufnahme sei schließlich, dass sie zur Reproduktion gemacht sei, man sie also immer und immer wieder höre, „und dann gibt es da eine Stelle mit einem Fehler, an dem man sich jedes Mal stößt.“

Das Originalkonzert und die gebügelte Variante

Die alten Aufnahmen von Horowitz, Videos, in denen er sich verspielt, oder Wagner-Aufnahmen unter Willem Mengelberg aus den 30er-Jahren, in denen es rauscht und knackt und noch nichts korrigiert werden konnte, kennt Levine gut. „Und ich mag sie auch am liebsten“, sagt er. „Wenn ich so etwas aufnehmen würde, hätte ich am Ende zwei Versionen, das Originalkonzert für mich und die gebügelte Variante.“ Gäbe es aber nur eine Aufnahme von so einem Konzert mit seinen Fehlern und keine anderen Aufnahmen, mit denen sie zu korrigieren wären, sagt Levine, „dann nehme ich alles, wie es ist, und dann finde ich es auch toll so.“

Levine kennt beide Seiten. Er selbst ist als Musiker im Trio unterwegs, spielt Theremin und nimmt die Konzerte auch auf. „Ich höre mir die Aufnahmen aber selbst nicht mehr an“, sagt Levine. „Meine Mitmusiker hören rein und geben mir die Schnittliste, ich baue alles zusammen, und dann war es das aber. Es ist interessant zu hören, wie es geklungen hat, aber ich brauche persönlich keine Aufnahme von den Konzerten – und das geht auch vielen anderen Musikern und Dirigenten so.“

Gegen das echte Erleben im Konzertsaal, zu dem auch die Atmosphäre, das Zusammensein „mit Gleichgesinnten“, das Bewusstsein über die Einmaligkeit des Moments gehörten, käme eine Aufnahme ohnehin nicht an. Das Aufnehmen sei so vor allem für solche Ensembles wichtig, die nicht ständig konzertierten: „Die haben dann zwei Jahre lang ein besonderes Programm vorbereitet und wollen sich anschließend einmal ‚von außen‘ hören.“ Und da sei es natürlich schön, wenn in einer Aufnahme das Ergebnis so perfekt musiziert wie möglich klinge.

Möglichst perfekt musizierte Musik in möglichst perfekter Akustik

Eine solche Aufnahme wäre dann vergleichbar mit einem gestellten Familienfoto, einem inszenierten Moment, der so nie existiert hat. Warum halten wir ihn dann überhaupt fest? „Wenn es permanent gute Musik in vielen guten Räumen gäbe, dann wäre meine Arbeit als Recordist obsolet“, sagt Levine. „Wenn ich ein gutes Konzert in guter Akustik verpasse, dann gehe ich halt zum nächsten.“ Es ist also einerseits der Wunsch nach dem Erleben möglichst perfekt musizierter Musik in möglichst perfekter Akustik. Andererseits versteht Levine sich als Chronist, hat in seinem Archiv Aufnahmen aus fünfzehn Jahren auf CD, höher auflösende Versionen, aus den vergangenen zehn Jahren Surround-Aufnahmen und die originalen Quellen, insgesamt also „über 1000 Klangdokumente und die jeweiligen Programmhefte“.

Mit dem Künstler in einem Raum

Emotional angeregtes Hören und Erleben findet vor allem im Konzert statt, wenn man mit dem ausführenden Künstler in einem Raum ist. Vielleicht ist dann auch ein Nachvollziehen auf Video oder mit Tonaufnahme möglich. Es handelt sich um zwei grundverschiedene Welten: die idealisierte Aufnahme, die das Scheitern einfach ausblendet, und das Konzert, das in dieser Form nur ein einziges Mal stattfindet und als Live-Aufführung voller kleiner oder großer Fehler steckt. „Mein Begriff von Perfektion ist eher ein Ideal“, sagt Motonori Kobayashi dazu, „es ist die perfekte Aufführung, die ideale Interpretation. Aber das kann ich nicht erreichen, und vielleicht ist es auch ganz gut so.“ Er wisse nicht, ob er noch weitermachen wolle, wenn er sein Ideal einmal erreicht habe. „Es ist ein Ansporn für mich, nie perfekt sein zu können.“ Es sei „wie bei den Menschen: Wir können nicht perfekt sein. Es gibt keine Perfektion, also gibt es streng genommen auch keine Fehler. Ganz grob gesagt.“ Daher ist es auch keine Beleidigung, Laienmusikern zu sagen, dass ihre Interpretation durch ihre Unperfektheit ergreifend war. Es ist vielleicht das größte Kompliment, das man ihnen machen kann.

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