Mit „Bach Uncaged“ befreien Zachary Carrettin und Mina Gajić zwei Klassiker aus ihren Käfigen.
Es heißt, die wahre Größe der Musik Johann Sebastian Bachs bestehe darin, dass man sie, egal was man damit mache, einfach nicht kaputt kriege. Aber wo endet die Konsistenz eines Werks? Auf ihrem Album Bach Uncaged schauen der Violinist Zachary Carrettin und die Pianistin Mina Gajić ganz genau hin, picken sich ein Werk heraus (die Violinsonate Nr. 1 in g-Moll) und testen seine Dehnbarkeit bis zur letzten innermusikalischen Konsequenz. Nicht nur, dass Carrettin das Stück in einer solchen Langsamkeit spielt, dass sich sein kompletter Charakter verändert – er entfernt sich auch zum großen Teil von der notierten Rhythmik und Phrasierung. Ein regelrecht radikales Rubato paart der Virtuose mit dem eigenwilligen Sound seines Instruments – einer mit Barockbogen gespielten, präparierten e-Violine. Da verhallen die Schlusstöne und gebrochenen Akkorde schon mal in einem digital erzeugten riesengroßen Echoraum. Und zwischen den einzelnen Sonaten-Sätzen untersucht Gajić die kurzen Sonatas and Interludes for Prepared Piano von John Cage mit maximal fokussierter Interpretation.
Schnell wird klar: Bach ist hier nicht länger der strenge, auf Puls festgelegte Meister und Cage kein abgehobener Zottelkopf, dessen Ästhetik immer und überall sämtliche Regeln hinter sich lässt. Diese Aufnahme stellt solche Logiken auf den Kopf. Bachs Werk verwandelt sich in eine fern fließende Traumwelt, wunderschön klingend, aus der die perkussive, tanzende Genauigkeit der Cage-Interludien einen sanft erweckt. Dabei ist Carrettins Bach-Interpretation alles andere als unpräzise: Er bewegt sich wie mit einer Lupe durch die Partitur, übergeht nicht einen einzelnen Ton, nicht eine einzelne kleine notierte Nuance. Im Zeitlupentempo wird vielmehr die analytische Arbeit sichtbar, die Carrettin und Gajić in Jahrzehnten der historisch informierten Interpretationspraxis geleistet haben. Ihre Lehre aus dieser Zeit: Bachs Werk ist vor allem eins – flexibel. Es besteht die ästhetische Brechung nicht nur, sondern wächst über sie hinaus.