Es gibt zahlreiche Herausforderungen, mit denen sich klassische Musikerinnen und Musiker tagtäglich auseinandersetzen müssen – spieltechnisch, finanziell, interpretatorisch, arbeitsrechtlich und so weiter. Diejenigen allerdings, die sich viel mit dem Schaffen Wolfgang Amadeus Mozarts (er selbst signierte mit „Amadé“) beschäftigen, hatten viele, viele Jahre lang ein ganz besonderes Problem zu händeln: das Köchelverzeichnis. 1862 vom österreichischen Historiker Ludwig von Köchel angelegt, dokumentierte es zunächst in chronologischer Reihenfolge 626 Werke des Komponisten und noch einmal knapp 300 Anhänge: verloren gegangene, angefangene, übertragene, zweifelhafte und „unterschobene“ Kompositionen.
Natürlich ging die Mozart-Forschung aber weiter. Die verschiedenen Musikwissenschaftler, die sich in diesem Zuge in den folgenden Jahrzehnten daran machten, das Verzeichnis um ihre neugewonnenen Erkenntnisse zu ergänzen, verwandelten es allerdings in einen immer unübersichtlicher werdenden Zahlenhaufen. So verschmolzen zum Beispiel mit den Jahren die Werke mit Nummer KV 185 und KV 205 zu den Chiffren KV 167a und KV 167A – zwei komplett unterschiedliche Kompositionen, die aber auf einmal fast identisch verzeichnet waren. Der Grund: Mozart komponierte sie im selben Jahr, 1773, und beide stehen in D-Dur. Die Chronologie stand über allem.
Sicherlich war dieses Hickhack auch der Grund, warum sich außerhalb der Wissenschaft Köchels ursprüngliche Nummerierung in vielen Fällen gehalten hat. Manche Ausführende sahen sich dann allerdings dazu gezwungen – um Missverständnisse zu vermeiden –, in ihren Programmen stets mehrere Verzeichnisnummern anzugeben: Die Sinfonie Nr. 12 in G-Dur für zwei Violinen, Viola, Bass, zwei Oboen und zwei Hörner hieß dann zum Beispiel KV 110 (KV6 75b).
Dieser Spuk, möchte man sagen, soll jetzt aber beendet sein. Nach über zehn Jahren Arbeit haben der Verlag Breitkopf & Härtel und die Internationale Stiftung Mozarteum eine final überarbeitete neue Ausgabe des Köchelverzeichnis präsentiert: ein schweres, dunkelrot eingebundenes Buch mit der alten Köchelnummerierung als Grundlage für fast 1.400 Seiten Forschungsdokumentation. Beim online übertragenen Event in Salzburg hörte man nicht nur die Ausführenden aufatmen, sondern metaphorisch die gesamte Szene.
„Das System des Verzeichnisses ist mit den Jahren unter seinem eigenen Gewicht kollabiert“, sagte Neal Zaslaw, Professor an der Cornell University in New York. Unter anderem habe man sich deshalb vom chronologischen Anspruch der Nummerierung verabschiedet und auch das Wort aus dem Titel entfernt – dafür stünde jetzt zum ersten Mal überhaupt „Köchelverzeichnis“ auf dem Deckel. „Alle Ausgaben wurden immer so genannt“, sagte Ulrich Leisinger, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Internationalen Stiftung Mozarteum, „es stand aber nie drauf.“
Die Nummerierung zu überarbeiten, war eines der dezidierten Ziele der Forschenden. Zudem ist das gesamte Verzeichnis online interaktiv einsehbar und durchsuchbar – hier sei tief der Hut gezogen vor den Menschen, die die herumfloatenden Nummernwolken programmiert haben. Zugleich bringt das neue Verzeichnis aber auch Werke zum Vorschein, die entweder als verschollen galten oder aufgrund fehlender Bezeichnung schlicht vergessen wurden – „Dinge, von denen die Welt nichts wusste“, wie Leisinger sagt.
Dazu gehört unter anderem ein kleines Stück, das jetzt unter der KV-Nummer 630 zu finden ist. Keine Neuentdeckung zwar, denn es wurde bereits 1789 in London gedruckt und noch einmal in den 1980er-Jahren publiziert. Allerdings fand diese Sonate in D für Cembalo und Violine nie den Weg auf irgendeine Bühne, aus dem schlichten Grund, dass es in keinem der bisherigen Verzeichnisse eine Nummer hatte. Im ersten KV wie auch im sechsten war es schlicht mit dem Zusatz „deest“ (lateinisch „fehlt“) versehen.
Im neuen Verzeichnis beginnt die Aufzählung der bisher unpopulären, verschollenen oder vergessenen Stücke jetzt bei der Nummer 627 – einem verschollenen Konzertsatz „für Clavier“ vom 9. Juni 1763 – und endet 95 Werke später mit KV 721, dem verschollenen Lied Meine weise Mutter spricht. Bei der Präsentation in Salzburg führten Haruna Shinoyama (Violine), Neža Klinar (Violine), Philipp Comploi (Violoncello) und Florian Birsak (Cembalo) zudem die bis dato vergessene Serenade in C für zwei Violinen und Basso, KV 648, zum ersten Mal wieder auf – vermutlich ein Jugendwerk, das für Ulrich Leisinger das Mozart-Bild entscheidend ergänzt. „Der junge Mozart ist uns bislang hauptsächlich als Komponist von Klaviermusik, von Arien und von Sinfonien bekannt“, sagt er.
Zwar wusste die Forschung schon vorher von kammermusikalischen Werken des jungen Komponisten, allerdings galten sie allesamt als verloren. In der Musikbibliothek der Leipziger Städtischen Bibliothek hatte sich offenbar „durch eine Verkettung günstiger Umstände“ dieses vollständige Streichtrio erhalten, das jetzt zum ersten Mal interpretiert werden konnte.
„Alle Werke bei Mozart sind vollendete Fragmente“, sagte Leisinger bei der Präsentation in Salzburg. Denn der Komponist schrieb offenbar zahlreiche Ideen auf, ohne sie als aufführbare Werke zu deklarieren: Das umfasse 91 Kanons und 29 Fugen, insgesamt 306 Aufzeichnungen, „von denen wir sagen: Das sind gar keine Kompositionen“ (Leisinger), also Stücke, die nicht für die Aufführung gedacht waren. Vieles musste Mozart nach angefangener Arbeit unterbrechen, darunter diverse Streichquartette und -quintette, weil lukrativere, besser bezahlte Aufträge an ihn herangetragen wurden. Leisinger zufolge gibt es „keinen anderen Komponisten, der so viele Fragmente und so viele Ideen hinterlassen hat“ wie Mozart.
Hier ist natürlich Vorsicht geboten: Nur weil ein Komponist wie Mozart derart gut erforscht ist, heißt das nicht, dass andere nicht vielleicht noch produktiver gewesen sein können als er. Georg Philipp Telemann wäre da ein Kandidat, genauso Carl Czerny, oder warum nicht auch Emilie Mayer, deren umfangreiches Werk erst seit den 1980er-Jahren wiederentdeckt wird? Mozart ist schlicht ein Künstler, dessen Werk zu den am meisten gespielten und am besten erforschten der klassischen Musik zählt.
Das beweisen unter anderem auch die neuen Anhänge des 2024er-Köchelverzeichnis: Hier sammeln sich zum Beispiel Bearbeitungen und Einrichtungen von Werken anderer Komponisten, alle Kadenzen für Arien oder Konzerte inklusive all ihrer verschiedenen Fassungen, und verschiedene Studien und andere musikalische Aufzeichnungen, auch Unterrichtsmaterial. Damit ist jetzt, wie das Musikinformationszentrum (MIZ) schreibt, „jede musikalische Aufzeichnung Mozarts, egal wie umfangreich, (…) mit einer eigenen Nummer (…) versehen“, auf die verwiesen werden kann. Natürlich kann es da schnell wirken, als habe Mozart in seinen nur 35 Lebensjahren mehr geschaffen (und vermeintlich genialeres) als andere in einem über doppelt so langen Leben.
Dementsprechend beweist das neue Verzeichnis ganz bestimmt nicht mehr oder weniger die vermeintliche Genialität des Komponisten. Auf Grundlage der tiefgreifenden und extrem wertvollen Forschungsarbeiten lassen sich zwar neue Zusammenhänge erschließen, andere verifizieren oder falsifizieren, und das bekannte Mozart-Bild ist jetzt ein ganzes Stück vollständiger und nachvollziehbarer als noch vor der Publikation.
Vor allem beweist dieses Mammutprojekt aber wieder einmal eines: Wie sehr eine Disziplin wie die Musikwissenschaft auf einzelne lange verstorbene, zu Genies erklärte Figuren setzt; für wie bedeutend Wolfgang Amadé Mozart und sein Werk für die aktuelle musikalische Landschaft und Forschung nach wie vor gehalten wird; und wie viel Zeit, Geld und Energie Institutionen bereit sind, in diese wichtige, bewahrende Vision zu investieren.
Und es zeigt, wie gerne sich Forschende auch mal selbst ein Denkmal setzen: „Das ist hochwertiges Papier, es wird auch in 250 Jahren noch in Bibliotheken stehen“, sagte Ulrich Leisinger etwa bei der Präsentation. Man habe dieses Verzeichnis „der Welt geschenkt“, es werde „in aller Ewigkeit seinen Wert behalten“. So viel Hingabe, Glaube und Liebe können sich andere Disziplinen nur wünschen.