Die Erfahrung sagt: Je länger ein Festival, Klangkörper oder Haus existiert, desto größer wird die Gefahr inhaltlicher Beliebigkeit. Die Frage, was denn die Bedeutung einer so lange gewachsenen Institution wie der Donaueschinger Musiktage ausmache, wird oft allzu rasch mit dem Hinweis auf ihre lange Geschichte beantwortet, oder nüchterner gesagt: damit, dass sie überhaupt noch existiert. Aber Tradition und Geschichte erzählen zwar davon, wie wir zu denjenigen werden konnten, die wir heute sind. Sie sagt aber nichts darüber aus, was die Gegenwart braucht.
So gesehen hat Lydia Rilling mit der Leitung der Donaueschinger Musiktage vergangenes Jahr die Steuerung eines schwer lenkbaren Tankers übernommen. Nach 102 Jahren entscheidet mit ihr zum ersten Mal hauptverantwortlich eine Frau, was das Publikum vom 19. bis zum 22. Oktober zu sehen und zu hören bekommt. Und das betonen zu müssen fühlt sich im Jahr 2023 schon fast wie eine Niederlage an. Auch wenn sich die Szene der zeitgenössischen klassischen Musik von den Missständen in der Klassik deutlich abgrenzt – nämlich der mangelnden Gleichberechtigung und Sichtbarkeit von Marginalisierten –, muss man sagen: Wenn es ums Renommee, um bedeutende Posten geht, schieben sich auch in der zeitgenössischen Musik nach wie vor bevorzugt diejenigen die Machtpositionen zu, die das schon immer taten. Vor diesem Hintergrund Lydia Rilling jetzt aber als Erneuerin oder Revolutionärin zu bezeichnen, wäre voreilig – schließlich ist mit dem Attribut „Frau“ noch nichts darüber gesagt, was sie mit dem Festival vorhat.
Beim Gespräch, das an einem der ersten Septembertage stattfindet, sitzt sie vor ihrem Laptop im Büro, Wolkenlicht fällt durch die Fenster und schärft die Konturen. Ehe Lydia Rilling nach Donaueschingen kam, war die 43-Jährige Chefdramaturgin der Philharmonie Luxembourg. Zuvor studierte und lehrte sie Musikwissenschaft in Potsdam und New York. Vor wenigen Wochen hat sie ihr Programm in einer digitalen Pressekonferenz vorgestellt. Besonders eine Tatsache sorgte für Verwunderung: Der Großteil der Künstlerinnen und Künstler, die sie eingeladen hat, sind noch nie bei den Donaueschinger Musiktagen zu Gast gewesen – weder als Interpreten noch als Komponistinnen. Für kleinere Festivals wie das rainy days in Luxemburg, das Rilling zuvor mehrere Jahre verantwortete, mag das passend erscheinen – aber für das wichtigste Festival zeitgenössischer Musik weltweit? Für den Ort, an dem der abschließende Teil von Karlheinz Stockhausens Zyklus Lichterklang, György Ligetis Atmosphères uraufgeführt wurden und Pierre Boulez’ Polyphonie X ein Pfeifkonzert auslösten? Komponisten wie Paul Hindemith, Mauricio Kagel, Alban Berg, Anton Webern, Helmut Lachenmann und Wolfgang Rihm traten in Donaueschingen auf, einige begannen hier ihre Weltkarriere. Das Festival schmückt sich mit diesen Namen.
Foto: © Birgit Nockenberg/SWR