Keine Angst, in See zu stechen

Die Komponistin Ethel Smyth hat in der englischen Frauenbewegung eine wichtige Rolle gespielt. Frauen sollten „nicht dauernd an der Küste herumlungern, aus Angst davor, in See zu stechen“ – das schreibt sie in ihrer Autobiografie „What Happened Next“. Sie selbst nahm sich das zu Herzen: stets im Kampf darum, dass ihre Arbeit in der Männerwelt ernst genommen wird, protestiert sie, wirft Steine, landet im Gefängnis. Mit „The March of the Women“ komponiert sie die Hymne der Suffragetten. Über eine Rebellin, eine Kämpferin, eine lesbische Frau, die sich nicht unterkriegen ließ.

… auf BR-klassik.de hören (bis 23. Januar 2024)

Produktionsskript

*die Aufnahmen der Demonstration „Votes for women“ und des singenden Frauenchores stammen aus dem Film „Suffragette“ unter Regie von Sarah Gavron, 2015

Musik: March of the women, erste Strophe (Plymouth Festival Orchestra, Ltg.: Philip Brunelle)

„Ruft, ruft, hoch mit eurem Lied! 

Ruft mit dem Wind, denn die Morgendämmerung bricht an; 

Marschiert, marschiert, schwingt euch mit, 

Weit weht unser Banner und die Hoffnung erwacht. 

Lied mit seiner Geschichte, Träume mit ihrer Herrlichkeit, 

Seht, sie rufen, und froh ist ihr Wort! 

Lauter und lauter schwillt es an, 

Der Donner der Freiheit, die Stimme des Herrn!“

Der feministische Kampf für Gleichberechtigung ist alt. Diejenigen, die im Jahr 2024 „Jin, Jiyan, Azadi“ rufen, die für die Abschaffung sexistischer Paragraphen kämpfen und machtkritische Bildungsarbeit leisten, stehen in einer jahrhundertelangen Tradition. Die erste Phase der Frauenbewegung begann schon zu Zeiten der Französischen Revolution – an dem berühmt gewordenen „Marsch der Frauen nach Versailles“ am 5. Oktober 1789 beteiligten sich zwischen 6000 und 8000 Bürgerinnen und Arbeiterinnen.

Die britische Komponistin Ethel Smyth kommt knapp 70 Jahre nach diesem gesellschaftlichen Großereignis zur Welt – im April 1858, in London. Es ist das Jahr, in dem mit Lionel de Rothschild die erste jüdische Person im Parlament einen Sitz einnimmt, in dem das Court for Divorce and Matrimonial Causes die Scheidung legalisiert, und in dem Barbara Bodichon, Matilda Hays und Bessie Rayner die erste Ausgabe des „English Woman’s Journal“ veröffentlichen. Dieses Jahr ist erst der Beginn einer tiefgreifenden revolutionären Veränderung der Politik, auf deren Weg Ethel Smyth eine wichtige Rolle spielen wird: Es geht um die Erkämpfung des Wahlrechts für Frauen.

Musik: March of the women, vierte Strophe (Plymouth Festival Orchestra, Ltg.: Philip Brunelle)

„Leben und Kampf, beides ist eins, 

Nichts könnt ihr gewinnen als durch Glauben und Mut: 

Auf, auf das, was ihr getan habt, 

und für die Arbeit von heute vorbereitet. 

Fest im Vertrauen, lacht trotzig, 

(Lacht in Hoffnung, denn sicher ist das Ende) 

Marschiert, marschiert, viele wie eine. 

Schulter an Schulter und Freundin an Freundin.“

Ethel Smyth hätte diese Hymne, den „March of the women“, wohl niemals komponiert, wenn sie sich nicht als Jugendliche dem Patriarchat widersetzt hätte – in der Person ihres Vaters – und zwar mit allem, was einer jungen Frau an Mitteln zur Verfügung steht: Eisiges Schweigen, die Sabotage von Kirch-, Dinner- und Ballbesuchen – eben allem, was von ihr als junger Frau erwartet wurde – und sogar einem Hungerstreik. Sie wollte Komponistin werden und zum Studium nach Leipzig gehen – koste es, was es wolle. Die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger nennt die Pläne der jugendlichen Ethel Smyth „aberwitzig, zumal sie nicht“, wie Rieger schreibt, „[…] im Ausland ihre pianistischen Fähigkeiten vervollkommnen wollte, um Musikpädagogin oder Klaviervirtuosin zu werden, sondern mit dem Kompositionsstudium in ein ‚männliches Revier‘ eindrang.“

Musik: Ethel Smyth – Klaviersonate Nr. 2 D-Dur, II. Scherzo (Klavier: Liana Serbescu)

Ethel Smyth wächst als viertes von acht Kindern in einer bürgerlichen Familie auf. Der Vater John Hale Smyth arbeitet als major general bei der bengalischen Armee und ist als Teil der britischen Kolonialmacht lange in Indien stationiert – unter anderem beteiligt er sich in dieser Funktion an der Niederschlagung des indischen Widerstands im Jahr 1857. Smyths Mutter Nina Emma Struth reist die meiste Zeit mit ihm. Sie hatte ihre Jugend in Paris verbracht und dort einen musikalischen Salon geführt, in dem unter anderem Persönlichkeiten wie Frédéric Chopin, Gioachino Rossini und die französische Schriftstellerin George Sand zu Gast gewesen waren. Eine Gouvernante der Familie, die am Leipziger Konservatorium studiert hatte, bringt Ethel Smyth unter anderem Klavierspielen bei – und möglicherweise entsteht dadurch ihr Wunsch, auch nach Leipzig zu gehen. Im Jahr 1877, mit 19 Jahren, kann sie ihren Wunsch dann endlich verwirklichen …

Musik: Ethel Smyth – Klaviersonate Nr. 1 C-Dur, II. Menuett: Semplice (Klavier: Liana Serbescu)

… und sie taucht ein, tief in das Musikleben dieser kulturell so wichtigen europäischen Stadt. Sie nimmt, enttäuscht von der Unterrichtsqualität an der Hochschule, Privatstunden bei Heinrich von Herzogenberg – und sie verliebt sich in seine Frau, Elisabeth von Herzogenberg, beginnt mit ihr ein heimliches Verhältnis. Im Salon des adligen Ehepaars lernt sie unter andrem kurz nach ihrer Ankunft Johannes Brahms kennen, dessen Werk sie extrem bewundert. Diese Begegnung beschreibt sie unter anderem ausführlich in ihrer autobiographischen Schrift „Impressions That Remained“ – und sie spricht im Januar 1935 auf BBC darüber. Die Aufnahme ist noch erhalten:

O-Ton Smyth: „I landed in Leipzig in 1877 in my heart, a passionate admiration for every note I had so far heard of Brahms’s music. Hence, my excitement may be imagined when I learned that he would be coming to Leipzig after Christmas to conduct his new symphony in D major at the Gewandhaus. It was at the rehearsal that for the first time I set eyes on the great man.“ /

Deutsch: „Ich kam 1877 in Leipzig an, und trug im Herzen die leidenschaftliche Bewunderung für jede Note, die ich bis dahin von Brahms‘ Musik gehört hatte. Daher kann man sich meine Aufregung vorstellen, als ich erfuhr, dass er nach Weihnachten nach Leipzig kommen würde, um im Gewandhaus seine neue Sinfonie in D-Dur zu dirigieren. Bei der Probe habe ich den großen Mann zum ersten Mal gesehen.”

Musik: Johannes Brahms – Sinfonie D-Dur, IV. Allegro con spirito (Berliner Philharmonoiker, Ltg.: Simon Rattle)

Anschließend an das Konzert trifft sich die Gesellschaft im Hause der von Herzogenbergs. Dort gerät sie mit dem großen Komponisten aneinander:

O-Ton Smyth: „What particularly infuriated me was his views about women. (…) we are out of place everywhere except in the nursery, the kitchen and in church. But there is something still more offensive in the view upheld by Brahms, who as a bachelor and artist preferred to look up at women as playthings.” / 

Deutsch“Was mich besonders wütend machte, waren seine Ansichten über Frauen. (…) wir sind überall fehl am Platz, außer im Kinderzimmer, in der Küche und in der Kirche. Aber noch beleidigender war, wie er als Junggeselle und Künstler auf Frauen herabsah wie auf Spielzeuge.”

Ethel Smyth reagiert mit einem ironischen Gedicht, das sie ihm später zuschickt:

„Der grosse Brahms hat’s neulich ausgesprochen:

‚Ein g’scheidtes Weib, das hat doch keinen Sinn!‘

D’rum lasst uns einsig uns’re Dummheit pflegen,

Denn nur auf diesen Punkt ist Werth zu legen

Als Weib und gute Brahmsianerin!“

Musik: Ethel Smyth – Invention in D-Dur (Klavier: Liana Serbescu)

Bis zu ihrem öffentlichen kämpferischen Engagement in der britischen Frauenbewegung, bei den Suffragetten, vergehen aber noch einige Jahre. Ethel Smyth komponiert fieberhaft: Klaviersonaten, Streichquartette, kleiner besetzte Sinfonien und Lieder – aber erst nach und nach arbeitet sie sich an die größeren musikalischen Formen heran. Nach einer kurzen Zeit in Florenz, wo sie unter anderem ihren späteren Ehemann Henry Brewster kennenlernt, entwickelt sie ein Interesse für Orgelmusik:

Zitat“Das Orgelspiel hat mich gepackt, das mich, als eine Art athletische Übung, mehr reizte als die Geige, ganz zu schweigen von der Aussicht Bach auf seinem eigenen Instrument zu begegnen.“

Sie fährt zu unterschiedlichen Kirchen, hört Organistinnen und Organisten 

beim Improvisieren zu, beginnt selbst, das Instrument zu studieren. Am Ende, 1884, komponiert sie ihre kurzen Choralpräludien und -Sätze:

Musik: Ethel Smyth – Five Short Choral Preludes, I. “Du, O schönes Weltgebäude” (Orgel: Robert Fielding)

Mehr und mehr interessiert sich Ethel Smyth für große sinfonische Formen. Sie kehrt nach Leipzig zurück, vertieft ihr Wissen in der Instrumentationslehre, und beginnt üppig besetzte Orchestermusik zu komponieren. Sie schreibt Orchesterkonzerte, Sinfonien und sechs Opern, ist die erste Komponistin, deren Werk in der Metropolitan Opera aufgeführt wird. Jahre vorher aber wird ihre Messe in D nach der Uraufführung in der Royal Albert Hall im Januar 1893 zu ihrem ersten durchschlagenden Erfolg. Sie widmet das Werk ihrer Freundin Lady Pauline Trevelyan, einer „ihrer großen Lieben“, wie die Musikwissenschaftlerin Susanne Wosnitzka schreibt. Über Pauline schreibt Ethel Smyth in ihren Memoiren „Impressions That Remained“:

Zitat„Die Qualität ihres Geistes ließ sie manchmal unerreichbar erscheinen; ich verstand sie nicht immer, wurde aber immer und vollkommen verstanden. Ihr instinktives Erfassen des Lebens und seiner Feinheiten schien keine Grenzen zu kennen; Wesens-Strahlen, die auf der rauen Oberfläche anderer Gemüter gebrochen und zerstreut wurden, gingen leicht und ungebrochen in das ihre über. Man hätte den ganzen Tag mit ihr schweigen können und doch wissen, dass man ein Teil ihres Geistes geworden war. Zusicherungen wurden weder gegeben noch gebraucht … ihre stille Zurückhaltung nährte ein Vertrauen, das durch nichts gestört werden konnte.“

Musik: Ethel Smyth – Messe in D, III. Sanctus (BBC Symphony Orchestra, Ltg.: Sakari Oramo)

Zitat„Ich möchte, dass Frauen sich großen und schwierigen Aufgaben zuwenden. Sie sollen nicht dauernd an der Küste herumlungern, aus Angst davor, in See zu stechen. Ich habe weder Angst noch bin ich hilfsbedürftig; auf meine Art bin ich eine Entdeckerin, die fest an die Vorteile dieser Pionierarbeit glaubt.“

Schon von Beginn ihrer Karriere an muss sich Ethel Smyth, die nicht nur komponiert, sondern auch dirigiert und schreibt, mit sexistischer Diskriminierung auseinandersetzen. Nicht nur, dass sie sich immer wieder anhören muss, eine Frau sei im Grunde gar nicht in der Lage dazu, Kunst, geschweige denn anspruchsvolle klassische Musik zu schaffen – nein, ihre Werke werden auch noch permanent an Rollenerwartungen gemessen: Rezensenten nutzen die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ als Metaphern für ästhetische und stilistische Bewertungen. Von Komponistinnen wie ihr wird erwartet, „fein, anmutig, raffiniert und sensibel“, also „weiblich“, zu komponieren, und das alles in kleinen Formen, höchstens Kammermusik. Das bedeutet, wie der Musikwissenschaftler Eugene Gates schreibt, eine doppelte Zwickmühle: Wenn Frauen „in den kleineren Formen komponierten, galt dies als Beweis für ihre angeborene Unfähigkeit, in den größeren, abstrakteren Formen zu denken; schrieben sie jedoch Werke mit vermeintlich männlichen Tönen, hieß es, sie haben ihre sexuelle Identität verraten“. Ethel Smyths Rhythmen und Melodien sind oft akzentuiert, immer wieder erinnert der Einsatz von Blechbläsern, Piccoloflöte und Trommeln an Militärmusik – ihre Tempi sind schnell, und wenn weiche Dynamik aufkommt, dann hält sie meist nicht lange an. Das, in Kombination mit ihrem Geschlecht, reicht Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts für misogyne Kritik. Gefällt einem Kritiker ihre Musik, lobt er ihre „maskuline Stärke“ – gefällt sie ihm nicht, kritisiert er sie dafür, die Grenzen des weiblichen Anstands zu überschreiten. Erfahrungen wie diese beschreibt sie in ihren zahlreichen Büchern und Memoiren.

Zitat„Ich habe Hermann Levi, dem großen Wagner-Dirigenten – einem aufgeschlossenen Mann, der sich nicht scheut, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen – einmal ein großes Chorwerk gezeigt. Nachdem er es gehört hatte, sagte er: ‚Ich hätte nie geglaubt, dass eine Frau das geschrieben hat!‘ Ich antwortete ihm: ‚Nein, und wissen Sie was, in einer Woche werden Sie es auch nicht mehr glauben!‘ Er schaute mich einen Moment an und sagte dann langsam: ‚Ich glaube, Sie haben recht!‘ Das Vorurteil wird sich gegen seinen Sinn und Verstand durchsetzen – am Ende wird er sicher denken, dass es irgendwo einen Fehler gegeben haben musste! … Es ist dieser Rückstrom, der Frauen ihren Weg noch mehr erschwert als materielle Hindernisse.“

Bereits in den frühen 1900er Jahren hatten führende Suffragetten versucht, Ethel Smyth für sich zu gewinnen – in den ersten Jahren noch mit wenig Erfolg. Nach Gesprächen mit Freund*innen aber, Lesen von Zeitungsberichten und einer Veranstaltung, bei der sie der Anführerin Emmeline Pankhurst vorgestellt wird, ändert sich Ethel Smyths Einstellung. Sie pausiert ihre Aufträge und Projekte und widmet zwei ganze Jahre ihres Lebens der Women’s Social and Political Union, kurz WSPU. Im Londoner Blatt „Votes for Women“ schreibt sie im November 1910:

Zitat„Im vergangenen Frühjahr wurden ich und viele andere Frauen, die bis dahin in der Frage des Wahlrechts kein Lebenszeichen von sich gegeben hatten, von prominenten Mitgliedern des Ausschusses gefragt, wo unsere Sympathien lägen. Ich für meinen Teil antwortete, dass der Anblick eines harten Kampfes unweigerlich Bewunderung und Sympathie hervorruft, vor allem, wenn die Kämpfenden, wie die heldenhaften Kämpferinnen, Spott, Verleumdung und Leid freudig ertragen. Ich musste mir eingestehen, zu lange die Füße still gehalten zu haben. Seitdem ist das Thema für mich zu einem fesselnden Interesse geworden, und nirgendwo kann man eine überzeugtere Anhängerin der Sache finden als mich.“

Für Ethel Smyth ist die Frauenbewegung, wie sie schreibt, „die größte moralische Revolution, die die Welt je gesehen hat“. Zwischen 1910 und 1912 unterstützt sie Emmeline Pankhurst, wo sie kann: Sie begleitet sie zu ihren Reden, leistet Hilfe bei Fluchtversuchen und gewährt ihr Unterschlupf in ihrem Haus in Working. Gleichzeitig nimmt sie selbst an militanten Aktionen der Suffragetten Teil, geht zu Demonstrationen, schreibt Reden und Zeitungsartikel. Im Juni 1911 marschiert sie bei einer Massendemonstration mit rund 40.000 Teilnehmerinnen mit und führt die Sektion der Musikerinnen an. Bei diesen Demonstrationen ist Smyth oft in der ersten Reihe zu finden, beschreiben Augenzeug*innen, sie schreit lauthals und wehrt männliche Einschüchterungsversuche mit charakteristischer Schärfe ab.

Zwei Mal wird sie verhaftet: Im März 1912 randaliert sie mit rund 100 anderen Suffragetten in den Einkaufsstraßen Londons und wirft mit einem Stein die Fensterscheibe des Hauses von Kolonialminister Lewis Harcourt im Berkeley Square ein. Im Sommer 1912 landet sie wieder im Gefängnis, weil sie geplant haben soll, das Landhaus Harcourts anzuzünden. Aus ihrem ersten Gefängnisaufenthalt ist wohl die bekannteste Anekdote über sie überliefert – aufgeschrieben von dem Dirigenten Thomas Beecham, der sie besuchen kam:

Zitat„Ich kam im Gefängnishof an und fand die edle Gruppe der Märtyrerinnen vor, wie sie dort auf- und abmarschierten und mit Herzenslust [Smyth’] Kriegslied ‚March of the Women‘ sangen, während die Komponistin wohlwollend aus einem der oberen Fenster zusah und dazu mit bacchantischer Energie den Takt mit einer Zahnbürste schlug.“

Musik: Ethel Smyth – March of the women, zweite Strophe (Plymouth Festival Orchestra, Ltg.: Philip Brunelle)

Nach ihrem letzten Gefängnisaufenthalt wendet sich Ethel Smyth wieder der Musik zu. Nach und nach bekommt sie Probleme mit den Ohren, hört immer schlechter – auch ein Aufenthalt in Ägypten, in milderem Klima und in Behandlung bei versierten Ärzten, hilft nicht. Während des Ersten Weltkriegs arbeitet Smyth als Röntgenassistentin in der Nähe von Vichy – sie lässt sich persönlich von Marie Curie ausbilden und assistiert ihr bei Operationen. Wegen des Krieges werden geplante Uraufführungen ihrer Werke verschoben. Zunehmend wendet sich Ethel Smyth dem Schreiben zu und veröffentlicht erste autobiographische Werke. Darin tauchen alle berühmten Bekanntschaften auf, die sie pflegte, witzige und gnadenlos offene Anekdoten über Clara Schumann, Anton Rubinstein, Edvard Grieg, über Joseph Joachim, Peter Tschaikowski, die französische Kaiserin Eugénie de Montijo, Großherzog Carl Alexander und Königin Viktoria, über George Bernard Shaw, Bruno Walter – und Virginia Woolf, in die sich Ethel Smyth zum Ende ihres Lebens unsterblich verliebt. „Sie ist vom Stamm der Pioniere, der Bahnbrecher“, schreib Virginia Woolf 1931 über ihre Freundin Ethel Smyth. „Sie ist vorausgegangen und hat Bäume gefällt und Felsen gesprengt und Brücken gebaut und so den Weg bereitet für die, die nach ihr kommen.“

Ethel Smyths letzte Komposition im selben Jahr – 1931 – ist eine Oper: „The Prison“, eigentlich eine Mischung aus Vokalsinfonie und Oratorium. Darin monologisiert eine namenlose Gefangene über das Loslassen, die irdische Existenz, den nahenden Tod. Es scheint, als sinniere die 73-jährige Komponistin hier selbst über das Leben, das sie gelebt hat.

Musik: Ethel Smyth – The Prison, Part I, Close on Freedom (Experiential Orchestra, Ltg.: James Blachly, Sopran: Sarah Brailey)

“The Soul: 

Tell them that no man lives in vain, 

that some small part of our work, 

for reasons unknown to us, has been tossed aloft, 

and garnered in for ever. 

It was perhaps not our best work,

not perhaps a great or a good work;

maybe a moment of despair or of joy,

of passion or of kindness … 

perhaps almost nothing, 

a sight, a sound, a dream …

perhaps what men call a sin; 

but as a child drops a coin in the moneybag

his big friend keeps for him

so have we flung that stray moment into eternity, 

beyond the sun and the stars.”

Zitat“Weil ich meine eigenen Opern dirigiert habe und Schäferhunde liebe; weil ich mich in der Regel in Tweed kleide und bei winterlichen Nachmittagskonzerten manchmal sogar darin dirigiere; weil ich eine militante Suffragette war und die Gelegenheit ergriff, vom Fenster meiner Zelle im Holloway-Gefängnis aus mit einer Zahnbürste den Takt zum Marsch der Frauen zu schlagen; weil ich Bücher geschrieben, Reden gehalten und Rundfunkbeiträge produziert habe und nicht immer darauf achte, dass mein Hut gerade sitzt; aus diesen und anderen, ebenso zutreffenden Gründen bin ich in gewissem Sinne bekannt.”

Der feministische Kampf ist alt – und weitaus vielfältiger als er nach so einem Radiofeature zunächst erscheinen mag. So lange bürgerliche, weiße Frauen für ihre Rechte aufstanden und protestierten, so lange nämlich lehnten sich schon Schwarze Frauen und Frauen aus weniger privilegierten Verhältnissen gegen Rassismus und Patriarchat auf. Zurecht hat die bürgerliche Frauenbewegung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auch Kritik erfahren, weil sie eben nicht für die Rechte aller Frauen, sondern in erster Linie für die der privilegierten unter ihnen ein Auge hatte. Und trotzdem: Frauen heutzutage haben es unter anderem den Suffragetten und Vorbildern wie Ethel Smyth zu verdanken, dass sie wählen dürfen, dass sie am gesellschaftlichen und politischen Leben als gesetzlich, zumindest zum großen Teil, gleichberechtigte Menschen teilhaben können. Doch der Weg ist noch weit.