Kay Voges‘ Regiekonzepte sind gewagt, experimentell, manchmal verstörend und häufig preisgekrönt. Seit 2013 inszeniert der Schauspiel-Regisseur auch immer wieder Opern – und findet im niusic-Interview klare Worte zum aktuellen Opernbetrieb.
Kay Voges: Beides. Anfangs dachte ich: Mein Gott, Wagner ist nun echt das Gegenteil von Punkrock, der benötigt immer so viel Zeit, um auf den Punkt zu kommen. Aber diese komplett andere Zeitwahrnehmung in der Oper ist auch etwas, das dem Regisseur ganz viele Möglichkeiten gibt, wenn so ein Duett über „Ich liebe dich“ – „Du liebst mich nicht“ – „Ich liebe dich“ 15 Minuten lang geht. Da kann man über Bild, über Körper, über Bühne so viel mehr erzählen, als es beispielsweise im auf Narration gebauten Schauspiel möglich wäre. Dort wird die Narration vielmehr vom Autor vorgegeben, nicht von einer Musik.
Voges: Die Musik oder die musikalische Sprache steht außerhalb des logischen Kontexts. Sie ist emotional wahrnehmbar und lässt viel mehr Raum als die Wort-Sprache. Da kann man sich als Regisseur draufsetzen oder man kann sie konterkarieren und kontrastieren. Dadurch schafft man dann mitunter über die Musik einen Zoom in die Handlung oder in die Befindlichkeiten hinein, oder einen Zoom hinaus in eine Allgemeingültigkeit, weg vom Individuum. Das sind zwei Möglichkeiten, Mikro- und Makrokosmos gleichzeitig erzählen zu können. Das ist einfach eine schöne, weitere Möglichkeit des Regieführens.
Voges: Ich denke, das sind alles drei einander sehr nahestehende Berufe, die unterschiedliche Umgänge fordern. Man hat in der Oper einfach andere Möglichkeiten, etwas zu erzählen – Dinge, die in klassischem Theater schwieriger sind –, aber man hat natürlich auch Unmöglichkeiten. Also man kann eine Sängerin beispielsweise nicht während der Arie kopfüber vom Gerüst hängen lassen, das funktioniert oftmals nicht so gut.
Voges: Nein. Skandal war überhaupt nicht die Intention, was aber auch an sich total blöd wäre. Die Frage, die sich stellte, war: Wie kann man mit diesem klassischen Opernrepertoire umgehen, um damit relevante zeitgenössische Oper zu machen? Warum machen wir überhaupt noch Oper? Das ist ja eine ganz gute Frage: Was soll denn das, wie viele „Aida“-Inszenierungen gab es bisher auf der Welt, reicht es nicht langsam mal?
Der einzige Grund, weswegen wir Oper oder die alten Schauspiel-Werke noch immer oder wieder auf die Bühne bringen, ist, dass uns diese alten Werke für unsere Gegenwart heute noch irgendetwas zu erzählen haben oder noch irgendwelche Fragen für unsere Gegenwart in den Raum stellen. Und wenn Herr Weber damals die „Deutsche Nationaloper“ komponieren wollte, um eine „deutsche Identität“ heraufzubeschwören, und wir das heutzutage ohne irgendeinen Blick auf unsere Gegenwart spielen, übernehmen wir dieses Weber’sche Bild „deutscher Identität“ in das Hier und Jetzt. Dann laufen wir wirklich Gefahr, das Wahlprogramm der AfD auf die Bühne zu bringen. Und so war es für mich notwendig, diesen Begriff der „Nationaloper“ mal zu hinterfragen: Was heißt nationale Identität, was ist eine „Nationaloper“? Wo haben wir eigentlich noch dieses Bild vom „deutschen Manne?
Voges: Und das war einigen ein Dorn im Auge! Interessant waren dann vor allem die Reaktionen mancher Zuschauer, das sei ja „entartete Kunst“ gewesen. Und dieses Wort „entartete Kunst“ ist natürlich genau das Wort, das in die Debatte um eine „Nationaloper“ am wenigsten hineingehört. Dieser rechtskonservative Flügel fand die Inszenierung deswegen skandalös, weil ja die „deutsche Nationaloper“, ein „deutscher Wert“, durch den Schmutz gezogen worden sei.
Voges: Also wenn eine Oper eine Debatte darüber auslöst, was für Geschichten über unser Land erzählt werden oder was für Rollenbilder wir eigentlich in unseren alten Geschichten präsentieren, dann ist das gut. Mich hat es eigentlich gefreut, die Oper lief dann die komplette Saison nahezu ausverkauft und wurde auch gefeiert. Und gleichzeitig gab es diese großen Diskussionen darüber, wie wir mit unserem Begriff von Nationalität umgehen, wenn um uns herum immer mehr Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gemacht werden, und wie wir den Begriff „Nationalstolz“ definieren. Wenn eine Oper es schafft, sowas aufzuwühlen, und darüber heftigste Debatten entstehen, dann hat Oper auf einmal eine Relevanz, eine Ahnung davon, eine zeitgenössische Kunstform zu sein.
Voges: Sagen wir so: Ich würde mir wünschen, dass die Oper sich einer Erneuerung unterziehen würde. Ich würde mir eine Oper wünschen, die mehr auf gegenwärtige Komponisten eingeht. Im Schauspiel ist es selbstverständlich, dass die Klassiker neben Gegenwartsautoren gespielt werden. Ich würde mir eine Oper wünschen, die freier mit Sampling und Collagen umgehen könnte, anstatt immer diesem Werktreuefetisch gerecht werden zu wollen. Ich würde mir eine Oper wünschen, die sich aufmacht, andere Künste und auch andere Musikstile selbstverständlich miteinzubeziehen und sie gleichberechtigt neben sich stehen lassen zu können. Wie schön wäre es, eine Wagner-Oper zusammen mit einem Elektro-Künstler erleben zu können! Ich wünsche mir, dass wir einen freiheitlichen Umgang mit dem Material bekommen anstatt bloß Denkmalpflege zu betreiben.
Voges: Nein, nicht in der Form.
Voges: Das Schauspiel hat mit Bertolt Brecht eine riesengroße Revolution gehabt, nach der sich der Blick auf das Theater verändert hatte und vieles möglich geworden war, was noch bis dahin undenkbar war. Diese Theaterrevolution hat es in der Oper in der Form nicht gegeben, trotz Stockhausen, trotz Philip Glass.
Voges: Da Musik wesentlich emotionaler ist und nicht so sehr in die sprachliche Debatte hineingeht, stellt sie für viele einen Ort des Friedens dar, an dem man auch keine Debatte haben möchte. Dabei wissen wir ja, dass die großen Werke des Opernkanons zu ihrer Erstaufführung riesige Skandale dargestellt haben, dass Wagner mit Tomaten beworfen worden ist. Heute so zu tun, als ob nur die Gegenwart „skandalös“ wäre und alles andere früher immer bloß gefällig war, ist natürlich eine der größten Fehlannahmen des Kulturbürgertums.
Es ist schon bezeichnend, dass das in Deutschland meistgespielte Mozart-Werk die „Zauberflöte“ ist, und das jetzt genau so wie vor 20 Jahren. Die Spielpläne sind voll mit Verdi und Mozart, und zeitgenössische Komponisten werden so gut wie gar nicht gespielt. Jeder Museumschef weiß, man kann jetzt nicht nur Renaissancegemälde ausstellen, und auch in der Popwelt ist allen klar, dass die Sex Pistols, Queen und Rammstein wichtig waren für die Geschichte der gegenwärtigen Popkultur. Aber wenn man jetzt an einem Opernhaus „Einstein On The Beach“ inszeniert, – 40 Jahre alte Musik! –, dann ist das Publikum stellenweise so erschüttert, als ob es eine Revolution gewesen sei. Da merkt man doch, wie viel Musikgeschichte verpasst worden ist. Das ist ungefähr so, als wäre das Hören der Beatles plötzlich eine Erschütterung.
Voges: Also wenn man einen Zwölfjährigen, der gerade das realistische Zeichnen gelernt hat, vor eine Beuys-Plastik stellt, dann wird der auch sagen, „was ist das denn jetzt?“ Aber wenn man dem Zwölfjährigen Michelangelo gezeigt hat und dann irgendwann Monet und van Gogh und dann Andy Warhol und dann Beuys, dann wird er vielleicht verstehen, wie die Kunst einem permanenten Wandel ausgesetzt ist. Und dann wird er vielleicht aus diesem Geschichtswissen heraus diesen Beuys ganz wunderbar finden. Und genauso ist auch ein Opernintendant dafür verantwortlich, eine Auswahl musikgeschichtlich relevanter Werke zu präsentieren, um ein Wissen darüber zu vermitteln, wie die Geschichte der Musik geht, und wo wir eigentlich jetzt gerade stehen. Das werden die Zuschauer dann auch verstehen können. Ich glaube, dass das Publikum offener und neugieriger ist, als viele Intendanten denken.
Voges: Es gibt niemanden in einem Opernhaus, der nicht früher die Rolling Stones gehört hat, der kein Smartphone hat, der noch nicht auf YouTube Videos geschaut hat, der keinen Farbfernseher besitzt. Das heißt, es sind ja Menschen der Gegenwart, die dort in unseren Opernhäusern sitzen, die auch eine Gegenwartsgeschichte miterlebt haben. Dann müssen wir ja nicht so tun, als ob wir jetzt hier im Opernhaus automatisch ins Jahr 1850 zurückgebeamt werden, sondern dass man die Gegenwart erleben darf, mit Musikern, mit Sängern, im Augenblick.
Opernhäuser müssten natürlich entsprechende Vermittlungsarbeit machen und vielleicht auch aushalten, dass es mal, nach einer Spielplanumstellung, für ein, zwei, drei Jahre ein bisschen schwieriger wird – wobei das Haus bei „Einstein On The Beach“ knackevoll ist mit Menschen, die seit Jahrzehnten nicht mehr in der Oper waren. Das ist ein Beispiel dafür, dass es gelingen kann, gegenwärtiger zu werden. Wenn man sich dann darauf einigen kann, dass die Oper eine gegenwärtige Kunstform ist, der man da im Augenblick frönen darf, dann hat man auf beiden Seiten etwas geschafft.
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