Noch ist Hiob nicht von aller Welt verlassen: Seine vielen Kinder wurden zwar von Gott dahingestreckt und sein Haus zerstört und er und seine Frau leiden fürchterlich – aber ihre Freundinnen und Freunde kommen zu Besuch, helfen mit Kleidung und Essen, bleiben an ihrer Seite, sieben Tage und Nächte. Sie reden Hiob gut zu: „Siehe, wohl dem Menschen, den Gott straft! Darum verwirf die Züchtigung des Allmächtigen nicht!“
Jedes einzelne Instrument, jede Stimme, jede musikalische Wendung hat in Judith Weirs Oratorium „The Land Of Uz“ eine eigene Bedeutung. Der gezupfte Kontrabass und die unbekümmert tanzende Saxophon-Melodie geben dem hoffnungsfrohen Zuspruch der Freundinnen und Freunde einen jazzigen Unterton, darüber singen sie ihre Melodie in versetzten Quarten wie im gregorianischen Organum. Als aber Hiob einsetzt, verändert sich die tonale Stimmung komplett. Im Duett mit der Bratsche erzählt er von seinen Leiden – das Instrument fungiert im gesamten Oratorium als sein wortloses Alter Ego, seine umherschwebenden Gedanken und Gefühle.
Durch diese vielen instrumentalen, musikalischen und ästhetischen Wechsel hört sich das Werk wie ein musikalischer Krimi. In der kleinen Besetzung mit Orgel, Bratsche, Saxophon, Trompete, Kontrabass und Tuba bleibt die Musik stets durchsichtig – es ist, als würden alle Stimmen und Klangfarben wie eigene Charaktere auf einer imaginären Bühne auf- und abtreten. Ohne Bilder gezeigt zu bekommen, entstehen so lebendige Szenen vor dem inneren Auge – und das gleich ganz zu Beginn, als der Bote zu Hiob kommt und ihm von dem Unglück erzählt. Der Evangelist Tommy Watson singt in diesem Oratorium nicht, sondern spricht seinen Text.
Judith Weir schreibt, dass das Werk – das sie für die BBC Singers komponiert hat –, technisch teils extrem schwer zu singen ist: Um diese Musik umzusetzen, braucht es also ein wirklich herausragendes Ensemble. Die Schola Cantorum, die David Hill leitet, besteht zwar aus Studierenden der Yale University, aber das macht auf dieser Aufnahme überhaupt keinen qualitativen Unterschied zu etablierten Profi-Ensembles. Die Musikerinnen meistern nicht nur die technisch kniffligen Momente souverän, sondern spielen und singen dazu noch mit bemerkenswertem kollektivem Ausdruck. In „Where Is Wisdom?“ – „Wo ist Weisheit?“ – klingen sie wie ein Solistenensemble auf einer Opernbühne.
Auf ihrem Album stellen die Musikerinnen Judith Weirs Oratorium die 90 Jahre ältere Hymne „The Canticle of the Sun“ von Amy Beach zur Seite. Das Werk basiert auf einem Text von Franz von Assisi, in dem er Gott für die Natur dankt, für Sonne, Mond, Wasser, Feuer, Wind und Erde, aber auch über das menschliche Leiden und den Tod nachdenkt. Amy Beach schreibt einen siebensätzigen Lobgesang, unter anderem auf die, „die Schwäche und Trübsal ertragen (…), die friedlich ausharren, denn Du, der Höchste, wirst ihnen die Krone geben“.
Die beiden Werke antworten inhaltlich und ästhetisch aufeinander. Wie auch Hiob trotz seines Unglücks nicht vom Glauben abfällt und seinen Gott nach wie vor preist und anbetet, so tut das auch die Kirchenmusik, tun das auch die modernen Komponistinnen und Komponisten, die Menschen dies- und jenseits des Atlantiks – trotz Krieg, trotz Faschismus und himmelschreiender Ungerechtigkeit auf dem Globus. Von irgendwoher muss die Kraft zum Weitermachen und zum Widerstand ja kommen. Für manche mag das der Glaube an einen Gott sein, für andere die Hoffnung in die Menschheit, die Kunst oder die Wissenschaft – oder einfach nur sich mit Gleichgesinnten zu verbünden und nicht allein zu sein. Wie Hiob mit seinen Freunden. Zusammen wird es weniger schlimm. Diese Aufnahme lädt dazu ein, über den Hiob in uns selbst nachzudenken – oder einfach nur ein fantastisches Oratorium kennenzulernen, das hoffentlich noch öfter zu hören sein wird.