„Ich brauche eine Vision“

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Es gibt beim Dirigieren ein großes Problem: Man macht Musik, aber man spielt kein Instrument. Der Taktstock klingt nicht, es sei denn man haut ihn irgendwo drauf, und das sorgt dann eher dafür, dass alles verstummt. Der Dirigent ist darauf angewiesen, dass andere seine Ideen in Klang umsetzen, seine Instrumente sind, wenn man so will, andere Menschen, beziehungsweise eine Gemeinschaft aus solchen. Dirigieren ist also nicht in erster Linie eine musikalische Arbeit – sondern eine soziale.

Anna Rakitina hat im Laufe ihrer Ausbildung und Karriere viel Zeit damit verbracht, einigen Koryphäen bei dieser Arbeit über die Schulter zu schauen: Zu Beginn ihres Studiums beobachtete sie, wie der greise Gennadi Roschdestwenski in einem alten Moskauer Radiostudio mit den Musikern stundenlang an einem einzigen Takt aus Schostakowitschs 10. Symphonie herumtüftelte. Von Wladimir Jurowski ließ sie sich nicht nur in zermürbenden Masterclass-Stunden die Schlagtechnik schärfen, sondern spielte auch selbst unter seiner Leitung im Orchester (nämlich Celesta). Und später begleitete sie in Boston Andris Nelsons als Assistentin durch die Proben etlicher Beethoven-, Dvořák-, Mahler- und Tschaikowsky-Symphonien und saugte die Worte auf, mit denen der Lette die Spielanweisungen in Bilder übersetzte.

Es steckt also viel Arbeit, Geist und Erfahrung in der Handbewegung, mit der Anna Rakitina selbst Anfang April dem Paukisten der Sächsischen Staatskapelle Dresden seinen Einsatz gibt. Eigentlich ist es nur ein Blick, ein gemeinsamer Atemzug, ein vertikaler Pinselstrich. Tempo, Lautstärke, Intensität, das alles ist darin enthalten und gibt eine leise Idee davon, wie mächtig sich die 7. Symphonie von Jean Sibelius in den nächsten 20 Minuten im Saal der Semperoper erheben wird. Vom ersten Takt an scheint der ganze Klangkörper mit der Dirigentin zu atmen, gemeinsam durchschreiten sie Sibelius’ Emotionslabyrinth wie ein sakrales Gebäude. Trotz der kompositorischen Dichte schwebt diese Interpretation, sie schnörkelt nicht rum, macht sich nicht extrabreit. Rakitina vertraut darauf, dass Sibelius’ Konstruktion schon fliegen wird, wenn sie die Maschine nur fachkundig bedient. Und tatsächlich lässt dieser von Kitsch und Klunkern freigehaltene Klang die goldene Schönheit des Semperopernsaals sehr rasch vergessen.

Rakitina führt oder treibt ihre Musikerinnen nicht an – sie ist keine jener schillernden, charismatischen Leitfiguren, denen es heimlich gefällt, wenn man sie Genie nennt. Sie hat eine klare musikalische Vision, stellt diese aber nie über das kollektive Wissen des Orchesters. Und so ist auch dieser Sibelius nicht etwa eine „Rakitina-Interpretation“, sondern radikal kooperativ gedacht und umgesetzt. Die Dirigentin dient den Musikerinnen, nicht andersherum. Deshalb schlägt Anna Rakitina auch so präzise: Ein Spitzenorchester wie dieses braucht in der Regel keinen Takt, um im Tempo zu bleiben, und doch bietet Rakitina ihn an. Nur in ausgewählten Momenten wird ihre Bewegung wirklich groß. Dann greift sie mit beiden Armen mitten hinein in die imaginären Klangmassen, schwingt sie mit dem ganzen Körper in die Luft, und kurz denkt man, jetzt hebt sie gleich selbst mit ab. Die meiste Zeit aber reduziert sie die Gesten ihrer linken Hand auf wenige klare Vokabeln.

„Unprätentiös“ nennt ein Musiker der Staatskapelle in der Probenpause ihr Dirigat. „Klar und informativ“, sagt Anna Rakitina – allerdings nicht über sich selbst, sondern über Wladimir Jurowski, von dem sie sich technisch sehr viel abgeschaut hat. Die 36-Jährige sitzt mir gegenüber an einem Cafétisch – Jeans, Turnschuhe, Zopf –, vor sich einen Cappuccino und ein riesengroßes, reich verziertes Stück Schoko-Orangen-Torte. „Lange konnte ich mit Sibelius nichts anfangen“, sagt sie und sucht mit der Gabel nach einem Eingang in das Kuchenmonstrum, „es war die Notensoftware namens Sibelius, die mich dazu gebracht hat, mich mit seiner Musik zu beschäftigen.“ Während ihrer Promotion in Moskau – über Rachmaninows Kammermusik – hört sie jahrelang immer nur die Jingles, die das Notationsprogramm beim Öffnen abspielt (nämlich Ausschnitte aus Sibelius-Symphonien). „Nach und nach bin ich dann hellhörig geworden.“

Mittlerweile gehört Sibelius zu ihren Favoriten, zu den Komponistinnen und Werken also, zu denen sie etwas zu sagen hat: „Ich brauche eine Vision für ein Werk, sonst kann ich es nicht dirigieren.“ Soll sie ein Programm leiten, zu dem sie partout keinen Zugang findet, sagt sie ab. In Dresden konnte sie mitgestalten, aber das ist nicht der Normalzustand. Häufig springt sie ein oder wird für bereits feststehende Programme angefragt. Wenige Wochen zuvor etwa hat sie im Wiener Musikverein unter anderem Chopins 1. Klavierkonzert und Arenskis Variationen über ein Thema von Tschaikowsky dirigiert, dazu eine Uraufführung des jungen österreichischen Pianisten Kiron Atom Tellian. Anna Rakitinas Hände sprechen, zeigen, formen, trotzdem spürt man, dass sie sich dieses Programm nicht selbst ausgedacht hat. „Unsere Arbeit besteht aus Kompromissen“, wird sie später sagen, diesmal bei einem Karottensaft mit Blick auf die Hofburg. „Natürlich ist es schade, wenn der Kompromiss nicht zu dem passt, was du dir vorgestellt hast.“

Trotzdem geht sie in Wien nicht enttäuscht nach Hause. „Geht es um die Zusammenarbeit mit einem Solisten, ist mir sehr wichtig, andere Interpretationen zuzulassen. Das Orchester soll hier den Interpreten unterstützen. Da sind meine eigenen Ideen zweitrangig. Also habe ich losgelassen.“ Sie macht eine Pause. „Davon abgesehen ist das, was ich mir vorstelle, sowieso nicht immer das Beste. Es kann passieren, dass ich zum Beispiel eine Idee habe für ein bestimmtes Detail, aber im Gespräch mit einer Musikerin merke, dass ihr Ansatz viel schöner ist. Dann gehe ich diesen Weg. Das Wichtigste ist, einander zuzuhören.“ Ob nun aber eine dieser magischen Verbindungen zu einem Werk oder einem Komponisten entsteht, hat für sie nicht unbedingt etwas mit der Musik an sich zu tun, sondern damit, „ob mein Herz und mein Verstand es verstehen oder nicht. Es muss bei mir ankommen, und das braucht oft Zeit.“

Anna Rakitinas Geschichte beginnt in Russland. Sie wird 1989 in Moskau geboren als Tochter eines ukrainischen Vaters und einer russischen Mutter – einer Chordirigentin. Eigentlich möchte sie unbedingt Sängerin werden, erzählt sie, singt in Chören orthodoxe A-cappella-Messen in ihrer Heimatstadt, gibt den Geigenunterricht nach ein paar Jahren wieder auf. Im Studium merkt sie allerdings, dass ihre Stimme nicht groß genug ist für eine solistische Karriere. Da erzählt ihre Mutter ihr von großen Meistern wie Jewgeni Mrawinski oder Herbert von Karajan, und ihre Tochter ist gepackt: Sie wechselt fürs Dirigierstudium von Moskau nach Hamburg und beendet parallel dazu ihre Dissertation in Musikwissenschaft. Dr. Anna Rakitina arbeitet sich schnell bei verschiedenen Wettbewerben bis an die Spitze und macht international Eindruck. Als Russland Anfang 2022 die Ukraine angreift, zögert sie nicht lange und solidarisiert sich mit den Menschen in der Ukraine – ein Teil ihrer Familie lebt zu diesem Zeitpunkt in Kyjiw, ein anderer Teil in Moskau. Auch drei Jahre später, beim Dresdner Schokokuchen, ist sie glasklar: „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man einen Krieg unterstützen kann.“

Ihre Erfahrung als Bürgerin eines repressiven autokratischen Regimes spricht auch durch die Musik, die sie mit so viel Bewusstsein dirigiert. Dmitri Schostakowitsch liebt Anna Rakitina besonders. „Viele Komponisten waren ihrer Zeit voraus oder hinterher“, sagt sie. „Aber Schostakowitsch ist ganz der Moment. Er ist das Porträt seiner Epoche.“ Seine Musik, sagt sie, habe viel zu tun „mit Zeit und Macht, mit verschiedenen Formen von Macht – Macht, die versucht, dich zu zerstören, Macht, die du über diese Tyrannei hast. Und die Macht der Kunst und der Musik, zu heilen.“ Oft spürt sie die Angst hinter jeder Note: „Wie kann man denn keine Angst haben? Aber er konnte einfach nicht aufgeben. Er hat so viel Ironie und Sarkasmus in seiner Musik versteckt. Das war seine Art zurückzuschlagen, weil er es in der Öffentlichkeit nicht konnte.“

In gewisser Weise hat der Russe den Musikerinnen und Musikern damit auch ein Sprachrohr an die Hand gegeben. Musik ist nicht länger nur zum Vergnügen der Mächtigen da, sondern wird zum Instrument der Emanzipation in den Händen der Unterdrückten. Wer Schostakowitschs Werke dirigiert, muss streng genommen also ganz besonders unprätentiös mit dem Orchester umgehen. Anna Rakitina ist derzeit eine der klügsten und integersten Musikerinnen, die das tatsächlich können. Und wollen. Im Mai dirigiert sie in Leipzig, Seite an Seite mit Andris Nelsons, Schostakowitschs gesamtes symphonisches Werk in mehreren Konzerten. Diesmal bleiben die Filetstücke des Zyklus noch dem Gewandhaus-Chef überlassen.