Es wirkt, als hätte die Stadt auf sie gewartet wie auf eine Erlöserin. Überall in Berlin lacht und dirigiert in den Sommermonaten 2023 Joana Mallwitz von riesigen Plakatwänden ihrem potenziellen Publikum entgegen. Slogans neben ihrer Silhouette versprechen: „Gänsehaut kennt keine Grenzen“, „1.000 Menschen 1 Puls“, „Im Takt gegen den Strom“. Hier wird nicht nur die neue Chefin des Konzerthausorchesters begrüßt, sondern eine Kampagne gefahren, ja, ein Star geschaffen.
Dabei ist Joana Mallwitz zu diesem Zeitpunkt längst eine mittelgroße Legende: In Erfurt war sie die jüngste Generalmusikdirektorin Europas, in Nürnberg die erste Ehrendirigentin des Staatstheaters. Bei den Salzburger Festspielen war sie die Erste, die dort eine Oper dirigierte, noch dazu wählte die Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt sie zur „Dirigentin des Jahres“ (als Zweite nach Simone Young, das war 2006). Mallwitz hatte bereits in Zürich, Hamburg, Kopenhagen, Riga, Frankfurt am Main und Dresden dirigiert und dafür einen Opus Klassik und den Bayerischen Verfassungsorden erhalten. Ein Filmteam arbeitete an ihrer Kino-Biografie Momentum und begleitete ihren Sprung als erste Frau an die Spitze eines der großen Berliner Orchester. Kurz darauf, im Oktober 2023, bekommt sie das Bundesverdienstkreuz.
Auf eine Karriere voller erster Male „als Frau“ reduziert zu werden, gefällt ihr nicht. Es wundere sie immer wieder, sagt Joana Mallwitz in einem Interview, „wo man überall noch die erste Frau sein kann“. Dabei wolle sie einfach nur Musik machen: „Ich hoffe, dass wir diesen Filter irgendwann ganz weglassen können.“ Auch Pionierinnen wie Elke Mascha Blankenburg, Susanna Mälkki oder Simone Young betonten bereits vor 20, 30, 40 Jahren das Gleiche – dass sie es satt seien, die „Ausnahme“ zu sein, die „Andere“, und dass sie viel lieber über ihre Kunst sprechen würden als über ihr Frausein. Und doch verwies die Öffentlichkeit sie stets uhrwerkartig auf diesen ihren Platz, sei es durch (nicht nur unterschwellig) misogyne Kritiken oder diskriminierende Fragen in Interviews. Das raubt Kapazitäten: Wer sich permanent für die eigene Existenz rechtfertigen muss, hat weniger Zeit und Kraft für die zentrale, die ästhetisch-musikalische Arbeit.
Auch bei Joana Mallwitz wähnen die Neider schnell einen unverdienten Erfolg und prüfen ihr Dirigat, ihre Probenarbeit und Programmierung, ihre ganze Präsenz auf Herz und Nieren. Eine so erfolgreiche Frau – dazu noch mit Kind – ist suspekt, deshalb muss sie auch 2023 noch doppelt bis dreifach abliefern. Mallwitz probt nicht nur in hoher Intensität und steht zu Beginn ihrer Berliner Zeit jede, wirklich jede Woche selbst am Pult, sie glänzt nicht nur mit Interpretationen des großen Repertoires und gräbt zusätzlich vergessene Schätze aus; nein, sie hält auch alle Einführungen selbst, entwickelt neue Konzertformate, spielt in speziellen Sessions Klavier und plaudert dabei mit dem Publikum. Sie tingelt durch Podcasts, hält flammende Reden gegen anfallende Kulturkürzungen und taucht dann auch noch als sympathische Kumpelin bei Belegschaftsfeiern auf. Sie füllt das Amt der Generalmusikdirektorin mit so viel Musik, Leben und Energie, wie es nicht nur ihr Vorgänger, der über 80-jährige Christoph Eschenbach, nicht vermochte.
Joana Mallwitz beeindruckt Publikum und Gesprächspartnerinnen nicht nur mit ihrer Intelligenz und ihrem Wissen; sie vereint, was tatsächlich die allerwenigsten Stardirigenten können, Charisma mit sozialer Nahbarkeit. Und hier sind wir wieder bei der Berliner Plakatkampagne im Sommer 2023. Das Konzerthausorchester ist glücklich und stolz über die Zusage dieser brillanten Musikerin und Menschenflüsterin. Es möchte aber auch dafür bewundert werden, wie es als eines der ersten Spitzenensembles der Welt diesen Schritt geht und für die kommenden fünf Spielzeiten mal keinen der etablierten Männer verpflichtet, die sicher zahlreich zur Wahl gestanden haben. Deshalb prangen Joana Mallwitz’ Gesicht und Körper auf fast allen sichtbaren Flächen der Stadt. Das mag man kritisch sehen, von wegen Personen- oder Frauenkult – in Sachen Gleichberechtigung steht der Betrieb aber wirklich noch sehr am Anfang.