Es beginnt mit einem Donnern, ohrenbetäubend. Der Boden und die rotgepolsterten Sitze im Theater De Munt/ La Monnaie in Brüssel vibrieren, Zuschauer sehen sich irritiert an, mancher scheint zu überlegen, sich die Ohren zuzuhalten. Das Geräusch eines landenden Düsenjets kristallisiert sich langsam aus dem elektronischen Soundwust heraus, es wird noch einmal lauter, anstößig laut – das hier ist kein feierliches Heben des Vorhangs, eher ein Herunterreißen und Abbrennen. Die ersten reinen Klangminuten von Mark Greys Oper „Frankenstein“ sind so pragmatisch und brutal emotionslos wie die zwei Dutzend Figuren in weiß-sterilen Ganzkörperanzügen, die kurz darauf mit langsamem Schritt die Bühne betreten oder sich von oben abseilen, und in einem stillen Kreis um ein meterbreites Loch in der Mitte zusammenkommen. Die Luft ist voller Kunstnebel.
Um „Frankenstein“ soll es gehen an diesem Abend, das verspricht der Titel der Oper. Und tatsächlich ist Doktor Victor Frankenstein (Scott Hendricks), der Inbegriff des rastlosen Forschers, des Menschen, der gerne Gott wäre, an diesem Abend präsenter als im Roman von Mary Shelley selbst – nicht nur, dass er, Deus-ex-machina-haft mit einem Höllenlärm aus der Luft, von einem unbekannten Off kommt. Was sich auch auf der Bühne abspielt, denn da sitzen die mit ihren Anzügen gegen jeglichen Außenkontakt abgeschirmten Forscher aus der fernen Zukunft im schweigenden Kreis um das Geschehen herum und beobachten still, machen sich Notizen, schießen Fotos mit ihren Tablets. Sie stehen über dem Geschehen, das für sie ein Versuch ist, den wieder abzubrechen sie jederzeit in der Lage wären. Sie verfügen über die ultimative Macht.
Frankensteins Kreatur (Topi Lehtipuu, der in seiner Verkleidung wie ein Zombie aus „The Walking Dead“ aussieht) ist hier wie im Roman das Objekt der Wissenschaft. Im „Jahr 354 der Neuen Anthropogenischen Eiszeit“ wird es aus dem Eis geholt und mit Elektroschocks wiederbelebt, um zu sehen – ja, was eigentlich? Wie es sich verhält, wie es spricht, woran es sich erinnert? Vielleicht um herauszufinden, ob es mehrere Hundert Jahre nach seiner Erschaffung lebensfähiger wäre, oder anders: ob möglicherweise diese alles zu Eis machende Gesellschaft eher in der Lage wäre, mit einem potenziell gefährlichen, jedoch vor allem schwer traumatisierten Wesen wie diesem umzugehen.
Dabei sieht man die sterile Laborwelt durch die Augen der Forscher, und die Geschichte der Kreatur durch die ihren. Kaum erwacht, zucken hier Flashbacks über die durchscheinenden Wände auf der Bühne: Wald, Schnee, Sonne auf einem See, eine Familie in einem kleinen Holzhaus, der blinde Vater. Und dann: Feuer, ein wütender Mob mit Fackeln und Mistgabeln, vor Hass verzerrte Gesichter, später ein Junge, der panisch vor uns davonläuft, ins Wasser fällt, von zwei Händen gegriffen und ertränkt wird. Dazu eine Musik, die so konkret ist wie ambivalent. Sie changiert zwischen der Fratzenhaftigkeit hinkender Märsche und der Wärme echter romantischfarbiger Lyrik, beschwört orgelähnlich obertonreiche Spaltklänge und erstarrt in eiskalten vibratolosen Streicherflächen. Immer wieder, omnipräsent, kommentiert der Chor antik-tragödienhaft das Geschehen. Fast wirkt die Musik selbst wie aus Fetzen zusammengenäht. Grey spielt mit harten Schnitten, mit Glockenspiel, Blechgedonner, rasender Rhythmik und mit Hornfanfaren, die das Mark durchdringen. Zwischendurch komponiert er tonal (was schon fast gewagt ist), dafür aber stets in Momenten, die dadurch umso trügerischer wirken – ein Effekt, den Dirigent Bassem Akiki mit seinem hellwachen Orchestre Symphonique und dem Chor de la Monnaie sensibel herausarbeitet.
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Foto: © B. Uhlig