„Es geht darum, wahrhaftig zu sein“

Diese Interpretationen machen süchtig: Es ist 19 Jahren her, da spielte Jean Guillou an seinem Instrument in der Pariser Kirche Saint Eustache das gesamte Bach‘sche Orgelwerk ein – zehn Konzerte in wenigen Wochen, zu denen das ganze Viertel kam. Man presste die eher dürftig abgenommene Musik ohne nachträgliche Schnitte und tonmeisterliche Politur auf zwölf CDs – der tosende Applaus nach jedem Werk ist mit drauf, knackende Kirchraum-Geräusche und kleinste Unsauberkeiten, die der damals 70-jährige Guillou seinen Fingern und Füßen nicht mehr verbot. Es sind die wahrscheinlich virtuosesten Bach-Einspielungen auf einer Orgel, die es gibt: sensationell musikalisch und extrem libertär.

Wie fast alles, was Jean Guillou in seinem Leben machte, blieben auch diese Aufnahmen in der Szene stets umstritten: Er registriert darin die barocke Vorlage vielfältig orchestral statt historisch „korrekt“, er verschiebt, dehnt und streckt die Tempi und artikuliert dabei so facettenreich wie kaum ein anderer Organist. Stücke wie die kopfverknotende Fuge D-Dur BWV532 bekommen durch Rubato und gezielte Anschlagsmuster einen unglaublichen Drive, als wäre da ein improvisierender Jazzmusiker am Werk. Und tatsächlich war Guillous künstlerische Maxime diesem Ansatz nie fern. Sie bestand immer, wie sein Biograf Jörg Abbing schreibt, in der „Flexibilität der Interpretation in all ihren Parametern“ – und das ohne auch nur eine einzige Note zu ändern.

Am vergangenen Samstag ist Jean Guillou im Alter von 88 Jahren verstorben. Die Orgelwelt verliert mit ihm den letzten Grand Monsieur seiner Generation, ihren wohl mutigsten Improvisator – und nicht zuletzt trifft sein Tod auch die Szene der zeitgenössischen Musik. Guillou war ein Enfant Terrible, einer, der ohne revolutionär sein zu wollen zu einer revolutionären Figur der Musikwelt geworden war. Sein Leben lang setzte er sich dafür ein, die Orgel aus dem kirchlichen Kontext zu befreien. Er arrangierte weltliche Musik für Orgel, komponierte selbst ein 87 Opus umfassendes Werk und baute fünf eigene Instrumente – darunter das atemlos diskutierte in der Tonhalle Zürich und eines zusammen mit der Firma Klais in der Kathedrale Santa Maria in Léon in Spanien: fünf Manuale, 64 Register, 19 Koppeln. Seiner eigenen Aussage nach ist es das schönste Instrument, auf dem er selbst je gespielt habe. Als Organist konzertierte er auf der ganzen Welt, lebte lange Zeit neben Paris in Lissabon und Berlin und gab in Zürich bei den Internationalen Meisterkursen für Musik zehntägige Improvisationsseminare. Sein Buch „Die Orgel. Erinnerung und Vision“ von 1984 gehört längst zur Standardliteratur.

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