Horizonte – die Sendereihe für Neue Musik auf BR-KLASSIK.
Ingeborg Bachmann gilt als eine der wichtigsten deutschsprachigen Nachkriegsautorinnen. Zunächst schrieb sie Gedichte und widmete sich im Lauf ihres Lebens immer stärker der Prosa. Dabei wies sie in ihren Texten immer wieder auf die nie geendete, zunehmend stärker werdende Bedrohung rechter Gesinnung in Deutschland und Österreich hin. Ihr Werk ist weitaus politischer als es häufig rezipiert wird. Nach einem Unfall in ihrer Wohnung in Rom ist Ingeborg Bachmann am 17. Oktober 1973 gestorben.
„Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde – das wird der schönste Frühling und Sommer bleiben. Vom Frieden merkt man nicht viel, sagen alle, aber für mich ist Frieden, Frieden! Die Leute sind alle so entsetzlich dumm; haben sie denn erwartet, dass nach einer solchen Katastrophe das Schlaraffenland von einem Tag zum andern ausbricht! Dass die Engländer nichts andres im Kopf haben werden, als uns auf Rosen zu betten? Mein Gott, wer hätte vor ein paar Monaten denn überhaupt gedacht, dass man es auch nur überleben wird!“
Hans Werner Henze – Nachtstücke und Arien, II. „Im Gewitter der Rosen“
Der Komponist Hans Werner Henze, der Bachmanns Text „Im Gewitter der Rosen“ von 1953 vertont hat, spiegelt in seiner Musik, was schnell übersehen werden kann: Bei der naiven Freude über das Kriegsende bleibt es in Ingeborg Bachmanns Reflexionen nämlich nicht lange – überhaupt beschreiben ihre Texte nie nur persönliche Beziehungen, Gefühle und Abgründe. Ihr Werk hat eine bezeichnende politische Dimension. Je mehr Zeit vergeht, desto stärker sind ihre Worte von dem Gefühl geprägt, dass es am Horizont donnert, dass „härtere Tage“ kommen werden. Schon nach ihrer ersten Lesung bei der berüchtigten Gruppe 47 schreibt sie:
„Am zweiten Abend wollte ich abreisen, weil ein Gespräch, dessen Voraussetzungen ich nicht kannte, mich plötzlich denken ließ, ich sei unter deutsche Nazis gefallen.“
Der Nationalsozialismus als Regime war zwar besiegt – doch die alten Nazis und ihre Sympathisanten waren und sind noch immer überall. Auch in der Gruppe 47 versammeln sich einige von ihnen – darunter Günter Eich und Günter Grass. Die Gruppe arbeitete Kritikerinnen und Kritikern zufolge die NS-Zeit und die Shoa nur unzureichend bis gar nicht auf. In dieser Atmosphäre liest Ingeborg Bachmann unter anderem ihr Gedicht „Alle Tage“:
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.
Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.
Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.
Hans Werner Henze – Nachtstücke und Arien
Ende der 1950er Jahre beginnt Ingeborg Bachmann damit ihre Kritik an der mangelnden Aufarbeitung der NS-Zeit zu verbinden mit Gedanken zum Kalten Krieg. Ihr Text „Freies Geleit“ zum Beispiel, den Hans Werner Henze hier vertont hat, ist ein Lied gegen die atomare Aufrüstung:
Hans-Werner Henze – Nachtstücke und Arien
Ingeborg Bachmann fordert in diesem Text einen humanen und an Freiheit und Solidarität orientierten Umgang mit der Natur. Ihre Texte besingen nicht die Schönheit der Wälder und des Meeres, ohne politisch zu sein, im Gegenteil: Immer wieder distanzierte sich die Autorin von der Naturlyrik. In einem Interview sagte sie diesen Satz:
„Ich glaube nicht, dass ich zu den Gräserbewisperern gehöre, das ist ein Wort von Benn. Ich kann nicht einmal drei Blumensorten auseinanderhalten.“
Lyrik, so die Konsequenz, – beziehungsweise Literatur allgemein – hat eine gesellschaftspolitische Verantwortung. Nicht zuletzt hat erst vor einigen Monaten der Lyriker und Essayist Max Czollek in einem Text für das Onlineportal „Faust“ erneut darauf hingewiesen:
„Die deutsche Romantik hat den deutschen völkischen Nationalismus in Bild, Wort und Ton vokabularisiert (und das gilt auch und vielleicht sogar gerade für das Naturgedicht!) (…) Ein Buchenwald ist eben kein Wald voller Buchen mehr, egal wie sehr man seine Abholzung beklagt. Ein Lampenschirm bleibt etwas anderes als eine Klobürste. Und die Kulturtradition selbst steckt knietief in der Gewalt, ist nicht selten ihre Komplizin gewesen. Es ist nicht ersichtlich, warum ein bisschen Erinnerungskultur und Selbstbildkorrektur daran etwas grundlegend geändert haben sollte.“
Zurück zu Ingeborg Bachmann. Trotz ihrer gesellschaftlich ausgerichteten Kunst, trotz ihres kritischen Anspruchs kommt keine Biografie, die je über sie geschrieben wurde, ohne Erzählungen über ihr Liebesleben aus – und das, obwohl Ingeborg Bachmann selbst immer versucht hat, ihr Privatleben aus ihrer Kunst herauszuhalten. Erst kürzlich ist ein gut 1000-seitiger Briefwechsel zwischen ihr und ihrem Lebensgefährten für einige Jahre, Max Frisch, erschienen. Mit ihm führte sie wohl ihre engste und zugleich traumatischste, innigste Liebesbeziehung – doch auch mit Künstlern wie Hans Magnus Enzensberger, Henry Kissinger und Paul Celan war sie über kürzere oder längere Zeiträume zusammen. Mit Marie Luise Kaschnitz, Hans Werner Henze und Ilse Aichinger war sie eng befreundet, traf sich schon in jungen Jahren im Wiener Café Raimund mit Hans Weigl, Friederike Mayröcker und anderen etablierten und aufstrebenden Denkerinnen und Denkern.
Bachmanns Karriere ist begleitet von Reisen. Paris, Wien, New York, Hamburg, Zürich, Frankfurt, München, Neapel, Berlin, Positano, Rom – vor allem in den italienischen Städten lebt sie teilweise mehrere Jahre lang. Bachmanns Verhältnis zu ihrem Geburtsland Österreich und dem benachbarten postnationalsozialistischen Deutschland wird immer zwiegespaltener. Bald spricht sie von einem „Doppelleben“ zwischen Rom, wo sie immer wieder wohnt, und Wien, dem Zuhause ihrer literarischen Arbeit.
Mehr und mehr kämpft Ingeborg Bachmann mit Depressionen, Angst und Panikattacken. Aus finanziellen Gründen entscheidet sie sich 1957 dazu, wieder eine feste Anstellung einzugehen – eine „Zwangsarbeit“, wie sie es selbst nennt – und wird Dramaturgin beim Bayerischen Fernsehen in München. Die dramatische Trennung von Max Frisch wenige Jahre später verkraftet sie kaum, versucht sich das Leben zu nehmen, geht mehrere Wochen in eine Klinik. Es folgen einige Krankenhausaufenthalte, in denen sie versucht, von ihrer Tabletten- und Alkoholabhängigkeit loszukommen. Nachdem ihr 1964 ein literarischer und privater Neustart gelingt, arbeitet sie konzentriert mehrere Jahre lang an ihrem „Todesarten“-Projekt, zu dem auch „Das Buch Franza“ zählt. 1971 veröffentlicht sie mit „Malina“ den ersten Roman dieser Reihe – ihr Romandebüt, eine „geistige imaginäre Autobiografie“, wie sie sie nennt:
„Im zweiten Kapitel des Buches, Der Dritte Mann, wird gezeigt, warum das Ich krank ist, warum die Gesellschaft krank ist und dadurch das Individuum wieder krank macht.“
Ingeborg Bachmann wird im Diskurs gerne als Feministin geframed, als Antifaschistin und Kämpferin für Gerechtigkeit – und ja, zu einem Teil stimmt das auch. Es wird einen Grund gehabt haben, dass etwa der KZ-Überlebende und literarisch weitaus deutlicher antifaschistisch agierende Paul Celan eng mit ihr befreundet war und ihr sogar einen Text wie „In Ägypten“ gewidmet hat. In ihrer Erzählung „Unter Mördern und Irren“ setzt Ingeborg Bachmann sich explizit mit der Nachkriegszeit und der Allgegenwart österreichischer Altnazis auseinander. Erzählungen wie „Ein Schritt nach Gomorrha“ und „Ein Wildermuth“ lassen sich als verschlüsselte philosophische Faschismusreflexionen deuten, in „Gomorrha“ reflektiert sie am Beispiel lesbischer Liebe die Geschlechterordnung. In einem Brief an Hans Magnus Enzensberger formuliert sie einen „Hass auf dieses Deutschland, auf die Deutschen“. Und in ihrem Romanfragment „Das Buch Franza“ zieht Ingeborg Bachmann Parallelen zwischen dem Patriarchat und faschistischen Strukturen.
„Ich bin (…) weiblich, die Manner haben mich aus ihrer Rippe getreten, dann mit Füßen getreten.“
Und trotzdem: Einiges an der Art, wie die Schriftstellerin die nie aufgearbeitete nationalsozialistische Vergangenheit und die daraus resultierende Gegenwart thematisiert, ist problematisch. Bereits in den Neunzigern kritisierten Literaturwissenschaftlerinnen wie Irene Heidelberger-Leonard Bachmanns Versuch, die Shoa mit der Erfahrung von Frauen im Patriarchat zu vergleichen – dadurch wird der organisierte Massenmord an Juden und Jüdinnen, an Sintizze und Rominja, an queeren, behinderten und linken Menschen zur Metapher für das patriarchale Ur-Verbrechen an der Frau benutzt, schreibt sie. Der Lyriker Kurt Bartsch und Historiker wie Hans-Ulrich Thamer fanden, Ingeborg Bachmann verwende den Faschismus-Begriff inflationär und verharmlose damit die Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus.
So oder so: Ingeborg Bachmann gehörte immerhin zu denjenigen, die auf die nie geendete, nach wie vor drohende Gefahr von rechts hinwiesen – und zwar immer wieder. Ihr Werk bezeugt eine Kontinuität des politischen und gesellschaftlichen Unwillens, aus der Vergangenheit zu lernen. Und es zeigt, wie wichtig es ist, dagegen laut zu sein.
„Ich werde Ihnen ein furchtbares Geheimnis verraten: Die Sprache ist die Strafe, in sie müssen alle Dinge eingehen und in ihr müssen sie wieder vergehen nach ihrer Schuld und dem Ausmaß ihrer Schuld.“
Vor 50 Jahren ist Ingeborg Bachmann in Rom gestorben.