Sofia Gubaidulina suchte nach Verbindungen, zu Gott, dem Universum und dem Unbewussten. Selten kam Musik diesem Ziel näher als bei der russischen Komponistin. Ein Nachruf
Sie musste raus, immer. Raus aus dem Lärm der Stadt, weg von den Menschenmassen, ihren Maschinen und Motoren, dahin, wo sie „die Welt atmen hören“ konnte. „Stille“, hat Sofia Gubaidulina mal in einem Interview gesagt, „ist für mich die Voraussetzung, um Musik schreiben zu können.“ Allerdings meinte sie damit kein verschlossenes Zimmer im Turm. Sie wollte sich nicht abkapseln, sie wollte sich verbinden. Mit dem Universum, mit Gott, mit dem Unbewussten, drunter hat sie’s nicht gemacht. Zum Glück. Denn so scheinen ihre Ästhetik und Architekturen über die Jahrzehnte die Sprache der Natur gewissermaßen sprechen und übersetzen gelernt zu haben. Gerne bemühte Gubaidulina selbst den Vergleich, ihr Werk nicht zu bilden, sondern vielmehr zu züchten, zu kultivieren: Irgendwo in der Erde ihres Geistes keimte demnach ein Samen, den sie goss, sonnte, düngte. „Die Welt, die ich um mich herum wahrnehme, bildet die Wurzeln eines Baums“, sagte sie, „und die Kompositionen sind seine Zweige und Blätter.“
Schon als junge Frau wird Sofia Gubaidulina auf ihrer Suche nach der Stille fündig in der Natur, in den Parks ihrer damaligen Wahlheimat, in den Wäldern vor Moskau. Dort tankt sie Inspiration, sammelt Kraft zum Komponieren. Ende der Fünfzigerjahre zog es sie dorthin, in die Metropole, um ihr Kompositionsstudium fortzusetzen, zusammen mit Zeitgenossen wie Alfred Schnittke und Edisson Denissow. Dort begegnen ihr die Ikonen der Zeit: Bei einem Wettbewerb etwa trifft sie den damals über 50-jährigen Dmitri Schostakowitsch, der ihr ermutigend zuspricht. Eine Seltenheit: Gubaidulinas Klangsprache widerspricht schon damals dem sowjetischen Ideal, die Jury attestiert ihr gar einen „kompositorischen Irrweg“. Aber sie geht ihn weiter.
Begonnen hatte Gubaidulina ihre Ausbildung am Konservatorium von Kasan, wo ihre Familie wenige Monate nach ihrer Geburt hin übergesiedelt war. Der Ort, an dem sie 1931 zur Welt kommt, ist dabei deutlich kleiner als die heutige Millionenstadt: Tschistopol in der Tatarischen Autonomen Republik. Ihr Vater, Asgat Madgudowitsch Gubaidulin, gehört dort als Wolgatatar zu den Einheimischen: Sohn eines Mullahs, Vermessungsingenieur, verheiratet mit der Lehrerin Fedossija Fedorowna Gubaidulina. Beide verstehen sich als Atheisten, sind treue Unterstützer der Kommunistischen Partei. Die frühe Faszination ihrer Tochter für Religion irritiert sie – eine Ablehnung wiederum, die in Gubaidulina Protest weckt: Sie will, je länger sie damit vor Wände rennt, nur umso mehr eine Kunst erschaffen, die ganz anders ist als der sowjetische Mainstream. Erst einmal hat sie damit aus ihrer Sicht auch Erfolg: „Als wir in Moskau jung waren, beschimpften uns die Behörden als Avantgarde-Künstler“, erzählte sie in einem Interview. „Damals hatte ich keinen Grund, dagegen zu rebellieren, denn es klang wie ein Fluch. Mein Wunsch ist es immer gewesen, gegen den Strom zu schwimmen. Das bedeutet für mich, Ernsthaftigkeit in die Kunst zu bringen.“
So ist es auch kein Wunder, dass sie sich mit den Jahren an dem zunehmend hochachtungsvoll vergebenen Label zu stören begann: „Ich hasse das Wort Avantgarde schon seit Langem“, sagt sie später. Aus ihrer Sicht schadete es der Musik, sie auf ihren Innovationsgehalt zu reduzieren, „weil es die Konzentration des Komponisten stört. Liegt der Fokus zu sehr auf externen Faktoren, ist das schlecht.“ Neuheiten seien für die Zeitungen da, der Kunst müsse es um „Tiefe“ gehen.
Für Gubaidulina bedeutet Tiefe allerdings nicht, beispielsweise Fragen zu stellen an menschliches Handeln und Gesellschaft oder gar den politischen Gehalt von Kunst. Sie fokussiert sich – irgendwie auch utopisch – auf die spirituelle Verbindung zwischen Individuum und Kosmos, liest den ganzen C. G. Jung auf Deutsch, bewundert seine Psychologie und Alchemie. Sie begeistert sich besonders für das Werk Anton Weberns und, umso mehr, für das Johann Sebastian Bachs, der bekanntermaßen alles, was er schrieb – soli deo gloria –, Gott widmete. Für sie gibt es keine Künstlerin, keinen Künstler in der gesamten Geschichte, dem so perfekt die „Synthese aus Freiheit und Form“ gelungen ist wie Bach. Danach strebt auch sie: „Freiheit ist das Wichtigste für mich, insbesondere die Freiheit, ich selbst zu werden.“ Und so übt sie den kontemplativen Blick auf die Welt. Nicht nur in vielen Interviews, die sie gegeben hat, fallen Begriffe wie Seele, Leben, Schöpfung, Existenz, Licht, Martyrium und Gott wie Schneeflocken. Auch in ihrer Musik sucht sie immer nach der metaphysischen Verbindung von Klang und seiner Erzeugung und Struktur mit einer größeren Ordnung.