Aliette de Laleu erzählt in ihrem Buch nicht einfach nur Biografien nach und weist auf das eine oder andere Werk hin – sie geht einen ganz entscheidenden Schritt weiter: Sie erzählt die Geschichten ihrer Protagonistinnen im Kontext ihrer politischen und gesellschaftlichen Lebensrealitäten. Immer wieder fügt sie Kapitel ein, die eben nicht einer oder mehreren bestimmten Frauen gewidmet sind, sondern die den Fokus legen auf einzelne Aspekte der von Männern gemachten Strukturen, die Frauen kontrollieren und einhegen sollten.
Sei es im Barock, in dem Frauen in Kirchen nicht musizieren oder singen durften – und wo etwa Opernsängerinnen oder andere Frauen, die sich doch in die Öffentlichkeit wagten, als „Kurtisanen“ herabgewürdigt wurden; sei es im napoleonischen Kaiserreich, in dem der Code Civil Frauen an den Herd und unter die Vormundschaft ihrer Ehemänner verwies; oder sei es die Romantik, in der Frauen durch das orchestrierte Handeln einzelner Männer zum Schweigen gebracht wurden – wie Fanny Hensel, Clara Schumann und Alma Mahler:
Zitat: „Dieses Trio verkörpert ein in der Künstlerwelt wohlbekanntes Muster: ein Schicksal, das durch ein männliches Genie zerstört wird – man denke nur an die Bildhauerin Camille Claudel, die von ihrem Meister und Geliebten Auguste Rodin enteignet wurde. Unseren drei Komponistinnen standen ein Ehemann, ein Vater und ein Bruder im Weg.“ (S. 78)
Aliette de Laleu erzählt in „Komponistinnen. Frauen, Töne & Meisterwerke“ im Grunde die Musikgeschichte nach, von der Antike bis in die Gegenwart – und zwar auf einem niederschwelligen Niveau: nie ohne einen musikalischen Fachbegriff gut verständlich zu erklären.
Ihre Ausführungen zur Musikgeschichte sind dabei deshalb besonders augenöffnend, weil sie die Namen der normalerweise abgefeierten Großmeister immer nur am Rande nennt: als Bruder, Mäzen, Ehemann, Kommilitone, Kritiker oder einfach als anderer Komponist derselben Epoche, der sich das Werk einer Frau entweder angeeignet oder ihm nachgeeifert hat. De Laleu berichtet von etlichen Fällen, in denen eben nicht die Männer die ästhetischen Vorreiter ihrer Epoche waren – sondern ihre Arbeit auf wegweisende Kompositionen und Texte genialer Frauen stützten. Ein Beispiel ist der Fall der Pianistin Hélène de Montgeroult, die eine gut 700-seitige Klavierschule geschrieben hat – und nie dafür anerkannt worden ist:
Zitat: „Das Schicksal [der Klavierschule von Hélène de Montgeroult] ist unglaublich paradox: Sie fristete ein Schattendasein, obgleich sie Generationen von Komponisten inspirierte, darunter so große Namen wie Robert Schumann, Felix Mendelssohn oder Frédéric Chopin. Manche der Künstler, die diesen Cours complet besaßen, mochten vielleicht nicht betonen, dass sie ihr pianistisches Können einer Frau verdankten; andere hatten sicher auch andere Lehrbücher zur Hand, die von dem von Hélène de Montgeroult verfassten beeinflusst waren, wenn deren Autoren nicht sogar daraus abgeschrieben hatten. Wie sonst sollte man die sehr engen Bande zwischen bestimmten Werken jener Komponisten erklären, die Dutzende Jahre zuvor von der Lyoner Pianistin komponiert wurden?“
Und es wird noch absurder:
Zitat: „Jérôme Dorival empfiehlt beispielsweise, Hélène de Montgeroults Etüden Nr. 11, 13, 18 oder 49 anzuhören, um darin ein wenig Schumann, und die Etüde Nr. 107, um darin ein wenig Chopin zu vernehmen.“
Das Schicksal dieser zukunftsweisenden, „genialen“ Frau ist kein Einzelfall – das zeigen de Laleus Analysen. Sie beweisen, wie Frauen nicht nur „vergessen“, sondern systematisch aus nahezu jedem Kontext der Musikgeschichte „ausradiert“ wurden. Man wird wütend: Auf die Männer, die ihre Töchter, Frauen, Schwestern zu Hause einsperrten, die ihnen das Lernen eines Instruments, das Komponieren oder Konzertieren verbaten; die Gesetze schrieben, nach denen Frauen bestimmte Instrumente nicht lernen, in bestimmten Räumen nicht musizieren und bestimmte Klassen nicht besuchen durften; die reihenweise Opern fabrizierten, in denen sie ihre Fantasien von kontrollierten, bestraften und getöteten Frauenkörpern auf die Bühnen hoben; die sich die Werke und Arbeit von Frauen schamlos angeeignet haben; die Frauen aus Orchestern verbannten und ihre Musik nicht dirigierten; die unwürdige Kritiken und Bücher schrieben, in denen sie die Arbeit und das Können von Frauen niedermachten; und die es schafften, dass sogar Superstars wie Clara Schumann, ernsthaft angefangen haben SELBST daran zu glauben, dass es vor ihnen keine genialen Komponistinnen oder Instrumentalistinnen gegeben habe.
Und das alles, obwohl es durchaus die Mäzeninnen und Mäzene gab, die Förderinnen und Förderer, die Netzwerke und Strukturen, die zum großen Teil Frauen selbst aufgebaut haben, um sich gegenseitig zu unterstützen und ihre Arbeit an die Öffentlichkeit zu bringen.
Zitat: „Die Ausradierung von Frauennamen – durch Heirat oder wegen der Gewohnheit, sie nur bei ihrem Vornamen zu nennen – erschwert die Recherchen. […] Nicht alle sind davon betroffen […] Wie konnte man sie also dennoch vergessen? An ihrem Namen lag es nicht; es gab auch kein Problem der Anerkennung […] und es lag offenbar auch nicht an ihrer Begabung […] Die Antwort darauf darf man nicht in der Musik, sondern [muss sie] in der Art suchen, wie Geschichte geschrieben wird. […] Indem sie sich mit einem vermeintlich wissenschaftlichen Ansatz versah, legitimierte die Musikwissenschaft die für wichtig erachteten Werke und Komponisten (aber auf der Grundlage welcher Kriterien?) und schloss dabei die Mehrheit der Komponistinnen aus.“ (S. 150 f.)
Das alles ist der Forschung der Musikwissenschaftlerin Florence Launay zufolge ein Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts (S. 151) – und der Gegenwart, wie de Laleu schreibt:
Zitat: „Das Problem lässt sich niemals ganz lösen. Daher die Notwendigkeit, zu kämpfen und von den positiven oder negativen Erfahrungen zu berichten. […] Je mehr Berichte wir über Künstlerinnen haben, die sich ihres Frauseins in einer von Männern dominierten Musikgeschichte bewusst sind, desto eher können wir uns vorstellen, welche Hebel es anzusetzen und welche Barrieren es niederzureißen gilt.“ (S. 154)