Wie rassistisch ist der Kanon der klassischen Musik? Die Debatte darüber, wer gehört wird und wer verstummt, wird lauter.
Zu gern wäre man in der klassischen Musik wohl vom antirassistischen Diskurs der letzten Monate verschont geblieben. Es lag zwar nahe, hier und dort über Praktiken wie Blackfacing auf der Opernbühne oder weiße Managementebenen im Musikbetrieb zu diskutieren; das geschah auch durchaus. Ein tiefer liegendes Problem aber, der musikalische Kanon selbst, seine Aufführungspraxis und die Musiktheorie kamen bisher nur am Rande zur Sprache.
Bezeichnend dafür ist die aktuelle Empörung über den amerikanischen Musikwissenschaftler Phil Ewell. In einer Reihe von Aufsätzen unterstellt Ewell seinem Fachgebiet einen weißen, rassistischen Frame – und trifft damit eine empfindliche Stelle. Innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit wurden in den USA Protest-Symposien gegen seine Thesen organisiert, ja sogar Schriftenreihen initiiert. Die Befürchtung von Ewells Gegnern: Er bringe die europäische Klassik als Ganzes in Misskredit.
Man kann diese Reaktion nachvollziehen: Schließlich kritisiert Ewell die Tatsache, dass die bis heute berühmtesten Komponisten ausnahmslos Männer sind und dass ihr Werk seit dem 18. Jahrhundert die Basis einer universellen Musiktheorie bildet. Schnell stellt sich die Frage: Was wäre die Klassik ohne das Schaffen dieser Genies? Ist nicht beides deckungsgleich, die Phalanx der Personen und der Kanon der Werke – und delegitimiert man nicht das eine, wenn man das andere infrage stellt?
Ewells Anwendung einer nichtweißen, feministisch-kritischen Perspektive auf musiktheoretische Fragen ist eine in dieser Wissenschaft unübliche Methode. Sie ermögliche es, so Ewell, den Status quo als Resultat tief verwurzelter diskriminierender Strukturen zu erkennen und zu benennen. Strukturen, die nie Thema waren im Club der „alten weißen Männer“.