Im Oktober rauschte das Chineke!-Jugendorchester durch die englischsprachigen Schlagzeilen: Anders als angekündigt spielten die Musikerinnen und Musiker vor ihrem Auftritt beim Lucerne Festival nämlich doch nicht die britische Hymne zu Ehren der verstorbenen Queen Elizabeth, sondern schlicht ihr normales Programm. Ein Skandal ist das allein noch nicht, Gott bewahre. Die Begründung aber, die Chi-chi Nwanoku, die Gründerin des Ensembles, für die Entscheidung lieferte, nahmen sich all jene zur Steilvorlage, die die Klassik durch vermeintliche „wokeness“ in Gefahr sehen: Das Orchester bestehe zum großen Teil aus Musikerinnen und Musikern, deren Vorfahren vom Empire versklavt wurden, schrieb Nwanoku in einer E-Mail – und die Queen stehe für dieses auf Rassismus und Ausbeutung gegründete System: „Wir werden in Luzern nicht die Nationalhymne spielen“, so Nwanokus unmissverständliche Worte. Und der Shitstorm begann.
Die beiden Chineke!-Ensembles – das Youth Orchestra und das Profi-Orchester – sind nicht die ersten Orchester der Geschichte, die politische Programm-Entscheidungen treffen. Sie sind jedoch die ersten europäischen Orchester, in denen mehrheitlich Menschen spielen, die bis vor wenigen Jahren noch kaum auf den Konzert- und Opernbühnen zu sehen waren: schwarze Menschen und People of Color, oder, wie Chi-chi Nwanoku sagt, „schwarz und ethnisch divers“. In einer weiß geprägten Welt habe ein Orchester wie dieses mit einer ganz anderen Qualität von Gegenwind umzugehen, erklärt sie – schließlich bewege man sich in einem System, das nichtweiße Menschen jahrhundertelang ausgeschlossen habe.
„Bitte nennt mich nicht ›non-white‹“, interveniert Nwanoku direkt zu Beginn unseres Gesprächs Anfang November, zugeschaltet per Videochat, in ihrer Wohnung in London: „Ich nenne euch doch auch nicht ›non-black‹. Das klingt, als wäre Weißsein die Norm und alles andere eine mangelhafte Abweichung.“ Genauso benutze sie auch bewusst nicht den Begriff der Minderheit, sagt sie, „denn eigentlich sind wir die globale Mehrheit“.
Foto: © Patrick Hürlimann