Akte der Selbstbestimmtheit

Francesco Damiani und Alvaro Schoeck nach Richard Wagner: Neverland

Es fängt schon vor der allerersten Szene an: Auf der Bühne der Jungen Oper in Dortmund passiert noch nicht viel – die Ouvertüre beginnt, Richard Wagners bekannte Flirrklänge, das Licht schimmert blaugrün –, doch bei erneutem Hinsehen entdeckt man jemanden im Orchestergraben auf einem Sessel lümmeln: Es ist Lohengrin (Fritz Steinbacher) in Schlafrock und weißen Socken, die Stirn in Grübelfalten gelegt. Ein Statement direkt zu Beginn von „Neverland“, der Adaption von Richard Wagners „Lohengrin“ von Francesco Damiani und Alvaro Schoeck: Diesem Helden ist alles Heldenhafte genommen, er tritt nicht einmal aktiv auf die Bühne, sitzt gar halb versenkt in einem Loch.

Der Schwan, der ihm in Wagners Oper den legendär gewordenen Auftritt verschaffte, ist allenfalls noch schemenhaft zu erkennen in der Lehne einer steinernen Bank neben dem Graben, genau wie das, was Lohengrin einmal war: Der strahlende Held mit Rüstung und Schwert, er ist verkommen zum hübschen Detail auf einem trockenen Springbrunnen neben der Bank. Es mag vielleicht auch um Lohengrin gehen in dieser Oper, das ist sofort klar, aber nicht um den verklärten Helden – was Damiani und Schoeck versuchen, ist ein Blick in das Innere des Menschen Lohengrin, aber vor allem ein Blick, der Elsa (Irina Simmes) und ihre Sicht auf die Geschichte und ihre Beziehung zu dem seltsamen Unbekannten in den Fokus nimmt.

Drei Akte wählen sie dafür, wie sie auch das Original hat, nur auf jeweils eine halbe Stunde Dauer stark verkürzt – oder eben vielmehr: konzentriert. Denn das männlichkeitsdominierte Drumherum wird ausgeklammert, allenfalls erscheint es wie eine dumpfe Erinnerung noch in kurzen Rangelszenen zwischen Lohengrin und dem (stimmlich beeindruckenden) Friedrich von Telramund (Mandla Mndebele) – doch selbst das sind Konflikte vor dem Hintergrund dessen, was zwischen Lohengrin und Elsa passiert. Ortrud (Hyona Kim) und ihr Gatte sind hier nämlich nicht in erster Linie die rachlüsternen Neider, sondern Freunde Elsas, die nur ihr Bestes wollen – zumindest meistens.
So entspinnt sich über den Abend hinweg eine psychologisch ausgefeilte Viererkonstellation, in dessen Zentrum Elsas Entscheidung steht, Lohengrin die verbotene Frage nach seinem Namen und seiner Herkunft zu stellen – oder eben nicht. Dass Elsa die Bedingung nicht einhalten würde, das wusste schon Wagner, nur geschieht ihr Fragen in seinem „Lohengrin“ aus anderen Gründen: charakterliche Schwäche vielleicht oder sündenhafte Neugier – wie auch Eva, als sie nach dem Apfel greift.

In „Neverland“ ist das Fragen hingegen ein Akt der Selbstbestimmtheit. Diese Elsa lässt sich nicht den Mund verbieten, auch nicht von dem Mann, der sie scheinbar so sehr liebt. Sie will eine ehrliche Beziehung führen, ihren Partner beim Namen nennen können, wie er es auch bei ihr ganz selbstverständlich tut. Offene Karten, auf beiden Seiten, das ist ihre Bedingung.

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Foto: Theater Dortmund