In dem kleinen Musikerzimmer im Konzerthuset Stockholm, ganz hinten am Ende des Ganges, sind die blaugrauen Wände voll mit den Porträts großer Künstlerinnen und Künstler der Vergangenheit – golden gerahmt, die meisten schwarz-weiß, manche mit Signatur. Da blickt der Dirigent Fritz Reiner wie immer ernst drein, Paul Tortelier konzentriert sich auf sein Cello, daneben der Geiger Nathan Milstein, der Pianist Issay Dobrowen, der King of Blues B. B. King und der Bratschist William Primrose. Einige kennt man (die meisten Frauen interessanterweise nicht), viele außerhalb der Klassikszene aber vermutlich nicht.
Zu den Füßen der Berühmtheiten sieht es chaotisch aus: Auf dem Klavierhocker balanciert ein halb aufgegessener Lachs-Quinoa-Salat, überall liegen Partituren herum, Taschen, Notizblöcke, dazwischen ein rosafarbener Bleistift und eine Kaffeetasse. Die Tür steht offen, Lisa Streich kämpft draußen im Flur mit der Espressomaschine. Es ist April, und in Stockholm regnet es, als wäre die Stadt nicht nass genug. In meinem Kopf kreist eine Melodie, die der Trompeter Lucas Lipari-Mayer ein paar Minuten zuvor im leeren Konzertsaal gespielt hat – zwei Töne, ein Pendeln, so zart angesetzt, dass es immer wieder zittert, kiekst, bricht. Meduse. Elle est belle et elle rit nennt Lisa Streich ihr neues Konzert, das sie dem Trompeter Simon Höfele gewidmet hat. Im Juni wird er in Köln die deutsche Erstaufführung spielen – die Uraufführung in Stockholm übernimmt sein Kollege.
Beim Hören werden zwischendurch immer wieder Assoziationen wach zu den sich reibenden Linien, den wogenden Akkorden des Stabat Mater von Pergolesi, vielleicht auch zu der einen oder anderen Kadenz in Mozarts Requiem – und so falsch ist der Eindruck offenbar nicht. Teilweise sei das Geschehen in ihrem Trompetenkonzert vom Stabat Materabgeleitet, „aber verschoben“, sagt Lisa Streich. „Ich habe versucht, eine liebende Musik zu schreiben, die sich der gewaltvollen Historie des Stoffs bewusst ist, aber verziehen hat“, sagt sie und lässt sich auf die Couch fallen. Die von Poseidon vergewaltigte Medusa, von Athene zur Strafe in ein Monster verwandelt, finde in der Musik zurück zu einer Unschuld, die es nie in irgendeine Erzählung geschafft habe, erklärt Streich. „Das ist natürlich auch eine gesellschaftliche Frage“, sagt sie. „Sind wir heute so weit – können wir die schöne, liebende Meduse sein, können wir Frauen wir selbst sein?“ In meinem Kopf ergänze ich: Oder dominieren doch immer patriarchale Erwartungen unser Denken und Handeln, siegt die Fremdzuschreibung über die eigene Identität, die Geschichte über die Zukunft?
Die Komponistin erzählt von Hélène Cixous’ berühmtem Essay Das Lachen der Medusa – wie sie ihn gelesen habe und was bei ihr davon hängen geblieben sei. „Cixous fordert Frauen auf, in ihrer Sprache zu schreiben“, sagt Lisa Streich. „Sie sollen nicht versuchen, wie Männer zu schreiben, sondern zu ihrer ganz eigenen Art des Schreibens und Schaffens finden.“ Der Essay von 1975 gehört zu den Schlüsseltexten der feministischen Theorie. „Es ist unerlässlich“, schreibt Cixous darin, „dass die Frau sich schreibt: dass die Frau von der Frau ausgehend schreibt und die Frauen zum Schreiben bringt, zum Schreiben, von dem sie unter Gewaltanwendung ferngehalten worden sind, wie sie es auch von ihren Körpern waren.“ Und weiter: „Es ist unerlässlich, dass die Frau sich auf und in den Text bringt – so wie auf die Welt und in die Geschichte –, aus ihrer eigenen Bewegung heraus.“
Im Gespräch mit Lisa Streich wird schnell klar: Das hier ist eines ihrer zentralen Themen. Nicht die feministische Theorie, sondern der Unterton dieses Textes: Es geht um Selbst- statt um Fremdbestimmtheit, um Vergänglichkeit; es geht um die Frage, welche Rolle eine einzelne Person in der Geschichte spielt, und um das Verhältnis unseres individuellen Lebens zur Zukunft der Menschheit. „Es ist ein bestimmtes Lebensgefühl“, sagt Lisa Streich. „Wir haben heute mehr denn je ein gewisses Ablaufdatum. Früher war die Zukunft prinzipiell besser als schlechter“, heute sei das anders. Heute sei mehr Umbruch, weniger positives Nach-vorne-Schauen. Kündigt sich so ein neues Zeitalter an? „Ich frage mich zum Beispiel, wie lange es noch Konzerte geben wird.“ Nach der Pandemie sei ihr klar geworden, wie schnell alles vorbei sein kann. „Und dann frage ich mich: Wenn das hier jetzt das letzte Konzert wäre – was möchte ich wirklich hören? Und was kann ich nicht hören, weil es im Repertoire einfach nicht existiert?“
Bild: © Harald Hoffmann/Ricordi