Um der Gottesanbeterin Willen

© Martin Sigmund/​Staatsoper Stuttgart

Kurze Frage: In welcher Welt leben manche Opernschaffende wohl? Ist es dieselbe wie unsere, wie meine, dieser fragile Planet, dessen Ökosystem gerade den Bach runtergeht? Oder ist es eine andere, ästhetischere, heilere?

Nach der Premiere von Olivier Messiaens Saint François d’Assise an der Staatsoper in Stuttgart bleibt vor allem Ratlosigkeit: Als Pilgerreise hat die Regisseurin Anna-Sophie Mahler die Aufführung angelegt, der erste und der dritte Teil fanden im Opernhaus statt, im zweiten wandelte man durch einen Park und besuchte eine Freilichtbühne. Etwa acht Stunden und mehr als drei Kilometer Fußweg bedeutete das für das Publikum – kein kleiner Einsatz für ein Werk, das seit seiner Uraufführung 1983, gelinde gesagt, als eines der undramatischsten der Operngeschichte gilt. Die Regisseurin aber fasste sich ein Herz und holte es raus aus dem Schrank, sie verfrachtete das Geschehen mit großem Paukenschlag in die Stadt und damit in die Welt da draußen.

Ihre Idee passt insofern gut, als dass Olivier Messiaens Protagonist, Franz von Assisi (grandios: Michael Mayes), in der Konfrontation mit der Außenwelt zum Heiligen wird: Er öffnet uns die Augen für die Wunder der Schöpfung, deren Schönheiten und deren Gräuel, und lernt beides aufrichtig lieben. Dazu gehört nicht nur der Aussätzige in seinem überdimensionierten eitrigen Pustelkostüm (Moritz Kallenberg), sondern vor allem der Gesang der Vögel, den Messiaen verehrte und bei jeder Gelegenheit liebend gern vertonte. In Saint François d’Assise gipfelt diese Liebe in einem fast einstündigen Tirili-Vogelstimmenkonzert in der Mitte der Oper.

Eine Erzählung wie diese ins Jahr 2023 zu holen geht eigentlich nicht, ohne den derzeitigen Zustand der Natur zu reflektieren. Sollte man meinen. François singt die Sonne an – man denkt an New York in der vergangenen Woche, an die kanadischen Waldbrände und daran, wie sie die Sonne verdunkeln. Das Orchester spielt ein „großes Vogelkonzert“ – und es ist völlig klar, dass einige der hier vertonten Stimmen bald nicht mehr zu hören sein werden, weil die Arten akut vom Aussterben bedroht sind. Kultur und Natur wieder stärker zu verbinden, wie die Regisseurin im Programmheft erklärt, ist eine nette Idee. Dass die menschliche Kultur selbst seit der Industrialisierung die größte Bedrohung für die Natur darstellt, gerät bei diesem Konzept – bis auf einen Absatz hinten im Programmheft – völlig ins Hintertreffen.

Mitunter nimmt das bei der Premiere groteske Züge an: Da wandern Hunderte Opernbesucherinnen und -besucher in der Hitze des Nachmittags durch den Höhenpark Killesberg und hören über MP3-Player, wie den Brüdern Bernard, Massée und Élie der Engel begegnet. An der Freilichtbühne angekommen, setzt erst einmal ein allgemeines Gerangel nach Wasser und Schatten ein. Die fürs Publikum aufgestellten Stühle bleiben rar besetzt, selbst um 18 Uhr brennt die Sonne einfach noch zu heiß. Während François im dicken Mönchsgewand 45 Minuten lang Vogelnamen aufzählt, fragt eine Sitznachbarin, wie diese Situation arbeitsschutzrechtlich wohl zu bewerten sei. Immer wieder übertönen Motoren- und Hubschraubergeräusche das Stuttgarter Staatsorchester (Leitung: Titus Engel).

… weiterlesen auf ZEIT.de

Foto: © Martin Sigmund/​Staatsoper Stuttgart