Musik und Demokratie

Der dirigentische Beruf verändert sich: Immer weniger Orchester wollen unter genialischen Tyrannen musizieren und streben dafür demokratischere Arbeitsweisen an. Wie kann das aussehen – und wie verträgt sich dieser Anspruch mit dem historisch gewachsenen Bild des gottgleichen Maestros am Pult?


Accelerando – Ausgabe 4

Wer im Jahr 2025 über Demokratie nachdenkt, kann sich schnell verloren fühlen: Überall auf der Welt gewinnen derzeit autoritäre Kräfte an Präsenz und Macht. Teils wie vor Schreck erstarrt schaut die globale Gemeinschaft dabei zu, wie Donald Trump die älteste Demokratie der Welt in einen autoritären Staat umbaut – doch auch in der Breite der deutschen Gesellschaft gewinnen antidemokratische Positionen und Strömungen stetig an Zustimmung.

Gleichzeitig scheint es, ausgerechnet in diesen Jahren, als würde sich die Kultur- und Orchesterlandschaft in die genau entgegengesetzte Richtung bewegen: Raus aus der strengen Hierarchie und weg von asymmetrischer Machtverteilung, hinein in strukturelle Reformprozesse, die Partizipation und Demokratisierung von künstlerischer Arbeit zum Ziel haben. Dabei galt bis vor ein paar Jahren der Theaterbetrieb noch als eine Art letzte Bastion des direktiven Arbeitens: „Der einzige Bereich, in dem sich die Demokratie noch absolute Herrscher leistet, ist das Theater“, hat der Musikwissenschaftler und Musikjournalist Reinhard J. Brembeck mal geschrieben. „Eine strengere Hierarchie als am Theater findet sich nirgendwo in der Gesellschaft, und es sollte zu denken geben, dass die darstellenden Künste von diesem Ideal nicht abrücken können. Dirigenten, Regisseure, Intendanten scheinen in ihrer absoluten Machtfülle unverzichtbar, um Kunst machen zu können.“

Brembecks Text stammt aus dem Jahr 2010, aus einer Zeit vor #MeToo und vor der Pandemie. Und dennoch haben diese Gedanken Relevanz, denn sie zeigen eine Entwicklung auf – besonders mit Blick auf die klassische Musik und die streng hierarchische Organisation der großen Klangkörper: Lange Jahre gab klassischerweise ein*e Dirigent*in in Probe, Konzert oder Oper den Takt an, je nach Persönlichkeit gern mit ausgeprägter autoritärer Geste. Sie oder er besprach die korrekte Ausführung der Interpretation mit dem Konzertmeister oder den Stimmführer*innen, die wiederum in Stimmproben und während der großen Proben und Konzerte ihre Gruppe anleiteten. Orchestermusiker*innen lernten traditionell ein Leben lang ihr Instrument, studierten viele Jahre, perfektionierten ihre Technik, um anschließend bis zur Rente auf ein und demselben Stuhl zu sitzen und pflichtgetreu unter ebendieser Anleitung ihren Dienst zu leisten. 

In einer solchen Atmosphäre wuchsen sich dirigentische Legenden aus – Namen, die Bewunderer bis heute noch immer mit Ehrfurcht in der Stimme aussprechen: Herbert von Karajan, Arturo Toscanini, Sergiu Celibidache, Wilhelm Furtwängler, Carlos Kleiber. Von ihnen sind wütende Ausraster überliefert, respektloses Verhalten und diktatorische Anweisungen – genau wie verliebte Musikbeschreibungen, charismatische Interpretationen und tosender Applaus. Zeitzeug*innen wie etwa der Dirigent und Komponist Bernhard Paumgartner berichteten immer wieder davon, wie sich die Atmosphäre des ganzen Raums angespannt habe, wenn eines dieser Genies durch die Tür trat; wie sie vor dem Charisma dieser angeblichen Meister erschauderten; wie die Orchestermusiker*innen ihnen im Spiel folgten wie gezähmte Tiere – und sie sprachen darüber, als wäre das etwas Positives: „Aus so vielen Tausenden, die versuchen, ein solcher Künstler zu sein, ohne indes je über das Zufällige, Schattenhafte ihres Tuns hinauszukommen, aus tausend anderen Mittelmäßigkeiten, unter deren Händen sich das Urbild stets nur in mattem Glanze zu offenbaren scheint, tritt, selten genug, nur in Sternstunden ein wahrer Meister vor uns hin“, schreibt Paumgartner etwa über Wilhelm Furtwängler, „ein solcher, dem wir alle mit der Freude der Beglückten das Unerlernbare, im Grunde Unbeschreibliche, das Qualitätszeichen des unbedingt großen, des genialen Nachschöpfers zuerkennen.“

Ein ausgewachsener Geniekult wie dieser – besonders ausgeprägt eben mit Blick auf Dirigenten – bringt Gefahren mit sich. Denn das „Genie“ ist wissensphänomenologisch nur in Abgrenzung zu einer entsprechend konstruierten, weniger fähigen, großen Gruppe von Menschen zu definieren, aus denen es superlativisch herausragt – vertikal, leuchtend, kostbar, als ein die anderen anführendes, gottgleiches „Super-Individuum“: „Es wird deutlich, dass die verschiedenen Definitionen der Worthülse ‚Genie‘ [historisch] von Normierungs-, Exklusions-, Hierarchisierungs- und Machtbildungsprozessen begleitet wurden“, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Julia Barbara Köhne. Legt man also die Genie-Folie über den Beruf des Dirigenten – oder auch nur über eine einzelne Person in diesem Fach –, erzeugt man damit rhetorisch und in historischer Konsequenz auch in der Realität ein höchst undemokratisches Machtgefälle. Und konzentrierte Macht bei einzelnen Personen – das hat #MeToo gezeigt – führt nicht selten zu Machtmissbrauch.

Moderne Orchester, das sagen und schreiben Musiker*innen und Journalist*innen immer wieder, seien allerdings aus dieser unterwürfigen Rolle mittlerweile herausgewachsen. Genialische Pulttyrannen seien out: „Zum Glück ist der autoritäre Maestro da vorne gar nicht mehr gewollt“, sagt auch die Dirigentin Susanne Blumenthal. „Das erlebe ich nur noch ganz selten, dass ich da vorne stehe und merke, die Musiker*innen wollen die klare Führung und den autoritären Auftritt.“ In ihrer Erfahrung hängt die Umgangsform dabei allerdings sehr vom Ensemble ab – das bestätigt auch der Dirigent Kevin John Edusei: „Die allermeisten Orchester schätzen es sehr, ins Gespräch einbezogen zu werden, wenn man sie beispielsweise auffordert einander mehr zuzuhören. Genauso gibt es Situationen, in denen eine eher eindimensionale Führung und Kommunikation seitens des Dirigenten nötig ist.“

So gesehen sind freie Dirigent*innen wie Susanne Blumenthal und Kevin John Edusei bei ihren Gastdirigaten gezwungen, sich an die Wünsche und Gepflogenheiten der Orchester anzupassen – und eben nicht umgekehrt. Beide arbeiten dabei so gut es geht auf Augenhöhe: „Ich finde es uninteressant, wenn die Musiker*innen aufhören einander zuzuhören“, sagt Kevin John Edusei. „Je mehr ein Dirigent das gegenseitige Zuhören einfordert, das im Einklang mit seinem Dirigat stehen sollte, desto anspruchsvoller und interessanter gestaltet sich das Musizieren und desto besser sind die gemeinsamen künstlerischen Resultate.“

„Mir ist sehr wichtig vorne zu signalisieren: Ja, ich bin zwar jetzt diejenige, die das Ganze zusammenführt, aber es ist immer eine Teamleistung“, sagt Susanne Blumenthal. „Hier ist jede und jeder Einzelne gefragt und muss sich einbringen, damit die Interpretation bestmöglich gelingt. Das ist nichts, was ich ausschließlich von vorne rein gebe, einfordere und dann passiert es. Als Dirigentin ist es wichtig ein Wir-Gefühl zu erzeugen und die Musiker*innen einzuladen sich mit all ihren künstlerischen Fähigkeiten und ihrem Ausdrucksvermögen einzubringen.“

Für sie beginnt dieser respektvolle Umgang bei vermeintlich kleinen Dingen: „Ich versuche stets, wenn ich bei einem Orchester zu Gast bin, mir zuvor die Besetzungsliste einzuprägen. Ich lerne jeden Namen auswendig. Und zwar nicht nur die der Stimmführer*innen und Solobläser*innen, sondern – wenn möglich – die der ganzen Stimmgruppe.“ Und beim Proben und Dirigieren schaut sie die Musiker*innen direkt an – nicht einfach nur in ihre Richtung, sondern explizit die Personen, denen sie den Einsatz gibt. Es seien Kleinigkeiten, sagt sie, die für das gute Gelingen der Proben und am Ende auch des Konzerts jedoch bedeutsam sind: „Denn natürlich gibt es hier keine flachen Hierarchien, das geht einfach nicht. Aber mir ist es wichtig, dass möglichst alle sich gesehen und vor allem gehört fühlen und ein Bewusstsein dafür entsteht, dass der eigene individuelle Klang ganz maßgeblich für den großen Gesamtklang ist – egal, an welcher Position man spielt.“

Bei einem großen Ensemble von 50 bis 100 Musiker*innen braucht es aus ihrer Sicht eine klare Organisation: „Der Konzertmeister oder die Konzertmeisterin hat die Aufgabe als Sprecher*in für den Streichapparat mit mir in Kontakt zu treten. Ich kann mich nicht mit jeder einzelnen Person aus den Stimmgruppen austauschen – auch wenn sicherlich jede/r Musiker*in bestimmte Vorstellungen und Ideen hat.“ Außerhalb der Probe sei sie immer offen für Anregungen von allen – nur in der Probe gehe es eben auch um Zeit: „So ein Orchester ist eine riesengroße Gruppe mit ganz unterschiedlichen starken Persönlichkeiten. Wenn diese sich alle in den wenigen Stunden Gehör verschaffen wollen würden, könnte man das Proben sofort einstellen.“ Aus ihrer Arbeit mit kleineren Ensembles, die sie leitet, kennt sie ausufernde Diskussionen: „Irgendwann muss man auch hier eine Entscheidung treffen, damit es weitergeht. Da muss eine Balance gefunden werden.“

Ist also, in welcher Form auch immer, demokratisches Musizieren unter einem Dirigat überhaupt möglich? „“Zwischen einer leitenden Person oder Funktion und einem demokratischen Prozess muss überhaupt kein Widerspruch bestehen“, sagt Kevin John Edusei. „Denn heutzutage haben Orchester in der Regel großen Einfluss darauf, wer sie dirigiert. Nicht nur in Deutschland, eigentlich weltweit ist es mittlerweile Standard, dass im Orchester ein Meinungsbild eingeholt wird über die Dirigent*innen, die eingeladen oder auch über einen längeren Zeitraum verpflichtet werden sollen.“ Dem gehe ein langer Austauschprozess voraus, nicht nur inhaltlich und personell, sondern auch künstlerisch – „das kann sehr spannend und befruchtend sein.“ Problematisch sei allenfalls, wenn diese Stimmungsbilder bei der tatsächlichen Entscheidung am Ende nicht berücksichtigt würden: „Dadurch wird der demokratische Prozess gestört und die Zusammenarbeit von Orchestern und Dirigent*innen belastet.“

Gleichzeitig arbeiten auch Ensembles und Orchester, die basisdemokratisch organisiert sind – zum Beispiel das Ensemble Resonanz, das Ensemble Modern oder die Junge Deutsche Philharmonie – regelmäßig mit Dirigent*innen zusammen. Eine musikalische Leitung wird also auch hier offenbar als ein Mehrwert empfunden. „Die Organisation des Proben- und Arbeitsprozesses, kurzum die Effizienz, ist dabei der wesentliche Faktor“, sagt Kevin John Edusei. „Hier muss man in der Praxis immer neu einschätzen, inwieweit der zeitliche Kontext eine größere Partizipation zulässt.“ Demokratisches Arbeiten, sagt er, sei allerdings nicht reduzierbar auf bloßes Mitsprache- und Abstimmungsrecht: „Für mich gehören ebenfalls das respektvolle Miteinander, Diversität und Inklusion mit dazu, weil wir in einer diversen und pluralen Gesellschaft leben.“ Diversität, das schreibt auch die Politikwissenschaftlerin und Demokratie- und Diversitätsforscherin Hannah Riede, „beschreibt Vielfalt im Vorgriff auf die Realisierung demokratischer Gleichheit.“ Der Begriff trage den Anspruch auf demokratische Gleichheit bereits in sich und sei vom demokratischen Konzept nicht trennbar – logischerweise kann echtes demokratisches Arbeiten nur in den jeweils größtmöglich diversen Räumen wirklich realisiert werden.

André Uelner war Agent für Diversitätsentwicklung im Orchesterbereich und ist Musikvermittler und Gründer des transkulturellen und basisdemokratisch organisierten Ensembles Colourage. Aus seiner Sicht ist „der basisdemokratische Ansatz an sich eigentlich nichts Besonderes, in der Klassikblase allerdings schon.“ Zwar könnte man die Arbeit kleiner Ensembles oder Streichquartette als ansatzweise demokratisch beschreiben, „aber die verhandeln eben nicht über das musikalische Material an sich. Und wenn jetzt noch Menschen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bezügen miteinander über musikalisches Material verhandeln, dann ist das ein echter Demokratieprozess im Brennglas.“

Das Ensemble Colourage entstand vor fünf Jahren aus der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz heraus – Uelner setzte sich mit Musiker*innen aus dem Orchester, der Popakademie Baden-Württemberg und der Orientalischen Musikakademie Mannheim zusammen, die Interesse hatten, musizierend, als neues Ensemble die musikalische Vielfalt der Region abzubilden. Im Zentrum steht dabei die Begegnung verschiedener Musikkulturen: „Es hat insgesamt drei Jahre gedauert, bis dieses Ensemble seine musikalische und inhaltliche Richtung final gefunden hatte“, sagt Uelner. „Es bringt hierbei nichts, Dinge direktiv vorzugeben – die zwei oder drei Male, die wir das versucht haben, gab es direkt eine kleine Rebellion aus dem Ensemble. Das basisdemokratische Arbeiten braucht Geduld für Aushandlungsprozesse.“ Seine eigene Rolle sei ebenfalls fluid: „Ich habe das Ensemble immer wieder gefragt, wie aus ihrer Sicht eigentlich meine Rolle ist. Und das konnten sie oft gar nicht richtig beantworten. Trotzdem brauchen sie mich – und sei es einfach nur für Tätigkeiten wie das Schreiben von Anträgen oder als künstlerischer und organisatorischer Berater.“ Das Konstrukt bleibe dabei immer fragil und verletzlich – aber das liege in der Natur der Sache: „Demokratie ist auch kein Naturzustand. Man muss sie sich immer wieder neu erarbeiten.“

Genauso gehört es dazu, dass demokratische Prozesse in Orchestern und Ensembles natürlich Schwierigkeiten mit sich bringen – die im Probenprozess häufig fehlende Zeit ist nur eine von vielen Herausforderungen. Auch bei der Organisation im Hintergrund können Ensembles auf Probleme stoßen. Eines davon ist, anscheinend, eine tiefsitzende Gewohnheit: „Während meiner Zeit als Chefdirigent hatten wir eine Kapellmeisterstelle neu zu besetzen“, erzählt Kevin John Edusei. „Wir haben uns mit den Musiker*innen ausufernd über das Bewerbungsverfahren ausgetauscht, bin hin zur Formulierung des Ausschreibungstextes, wie das Vordirigat stattfinden soll, welche Stücke dabei vorkommen sollen und so weiter – wirklich bis ins allerletzte Detail.“ Nach den Einladungen und Vordirigaten habe sich das Orchester auf einen Kandidaten geeinigt, der dann der Intendanz zur Anstellung vorgeschlagen und für zwei Jahre verpflichtet wurde. „Zwei Monate später hat er seine erste Orchesterprobe gemacht, und ich erhielt bereits in der Pause einen Anruf vom Orchestervorstand: Das sei ein vollkommen untauglicher Dirigent, und wer den denn eingestellt hätte. Auf einmal wollte ein Teil des Orchesters mit dem vorher abgegebenen eindeutig positiven Votum und dem klar formulierten kollektiven Wunsch nichts mehr zu tun haben.“ Die Verantwortung sei an ihn als Chefdirigent, die Operndirektion und die Intendanz zurückgespielt worden: „Man berief sich von Orchesterseite sofort wieder auf die alten, gefestigten hierarchischen Strukturen, die für diese Entscheidung bitte jetzt geradestehen sollen.“ Demokratisches Arbeiten und die Beteiligung an strukturellen Prozessen und Entscheidungen ist für Edusei allerdings nicht ohne die entsprechende Verantwortungsübernahme umsetzbar: „Partizipation muss immer mit Verantwortung einhergehen. Das ist die wichtigste Voraussetzung für gemeinsames demokratisches Handeln.“

Mit einer ähnlichen Prämisse ist Beat Fehlmann in seiner Zeit als Intendant der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz in Ludwigshafen vorgegangen: Das Orchester hat er zu einem „Kompetenzzentrum für Musik“ umgestaltet, bei dem die Musiker*innen eben nicht nur Dienst nach Vorschrift am Instrument leisten, sondern zu „aktiven Botschafter*innen des Orchesters“ werden. Sie seien schließlich diejenigen, sagt Fehlmann in einem Gespräch, die den Draht zur Stadtgesellschaft herstellen und halten – heißt: In diesem Pilotprojekt, das mittlerweile mit dem Innovationspreis der Deutschen Orchester-Stiftung ausgezeichnet wurde, werden die Musiker*innen in dramaturgische Entscheidungen eingebunden. Sie können eigene Konzertreihen entwickeln, neue Aufführungsformate und Kooperationen, sie starteten Blogs, Moderationen und eigene Ensembles. Damit sich die Musiker*innen dabei nicht selbst ausbeuten und am Ende mehr Arbeit leisten als sie per Vertrag müssten, entwickelte Fehlmann zusammen mit der Direktion einen eigenen Haustarifvertrag: Dieser Vertrag erlaubt flexible Arbeitszeiten und die Bezahlung der kreativen Denk- und Entwicklungsarbeit für alle Musiker*innen, die ihre Ideen einbringen möchten – und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, auch nicht mitzumachen. Wer nach wie vor lieber einfach nur sein oder ihr Instrument spielen will, kann das tun.

Bei demokratischen Prozessen geht es darum, gemeinsame Entscheidungen in einem produktiven Konflikt zu erarbeiten. Übersetzt auf ein Orchester bedeutet das: Die Souveränität geht von den Musiker*innen aus. Die Gewalt ist geteilt und Macht nicht dauerhaft bei einzelnen Personen konzentriert. Es gilt ein verbindlicher Rahmen für die Zusammenarbeit, an den sich alle halten. Der Umgang geschieht respektvoll und fair – und alle Beteiligten akzeptieren das demokratische Entscheidungsfindungsprinzip und die Arbeitsregeln. Pluralität und Diversität sichern den demokratischen Konsens. „Erst der Abgleich unterschiedlicher Positionen und Perspektiven macht gemeinsame Lernprozesse möglich“, schreibt dazu die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Ein*e Dirigent*in vor dem Ensemble kann in einer solchen Struktur betrachtet werden als eine Art Repräsentant*in, die der Souverän „für eine bestimmte Zeit an die Macht wählt“, wie André Uelner sagt. „Diese Person kann Prozesse anleiten und Dinge entscheiden, wenn es organisatorisch nicht anders geht oder wir als Kollektiv noch keine bessere Form gefunden haben.“ Die Betonung liegt dabei auf dem „noch“: An Demokratie muss gearbeitet werden. Sie kann verkümmern, sie kann sabotiert und zerstört werden – aber sie kann durch die kontinuierliche und fortschreitende Aushandlung auch gedeihen. Sogar im Orchester.