Es dauerte nicht lang, ungefähr 24 Stunden, da hatten die meisten deutschen Zeitungen und Kultur-Radio-sendungen mindestens einen Beitrag gebracht zu einem Akt ungeheuerlicher Gewalt, der Anfang Februar im Foyer der Staatsoper Hannover von weiten Teilen des Publikums ignoriert worden war: Der damalige Ballettchef Marco Goecke hatte der Tanzkritikerin Wiebke Hüster vor aller Augen, mitten im Foyer während der Premierenpause, eine Handvoll Hundescheiße ins Gesicht geschmiert und war dann entspannt zurück zu seinem Platz gegangen.
Der kollektive Schock über diese widerwärtige Attacke hätte groß sein können – nein, er hätte, fünf Jahre nach #MeToo, groß sein müs-sen. Schließlich hat ein Mann ganz offensichtlich versucht, einer Frau den Mund zu verbieten, die ihm zu präsent, zu laut und zu kritisch war – und das auf die wohl demütigendste Art und Weise, die man sich vorstellen kann. Die Tat machte sprachlos – umso mehr, als Goecke in einem NDR-Interview wenige Tage später mit der Erniedrigung seiner Kritikerin weitermachte. Er verharmloste seinen Angriff und stellte ihn als wehrhaften Akt gegen vermeintlich ungerechte Kritik dar.
Damit war Goecke allerdings nicht der Erste: Bei erstaunlich vielen Redaktionen und Kommentator*innen kickten Victim Blaming und vages Verständnis für den armen Künstler schneller als die Solidarität mit der angegriffenen Kritikerin. Anstatt darüber nachzu-denken, was manche Männer offenbar glauben, tun zu dürfen, und warum das so ist, ging es vielmehr darum, was Kritik eigentlich darf bzw. dürfen soll. So dachte etwa Laura Berman, Hannovers Staatsopernintendantin, zum Ende der anberaumten Pressekonferenz laut darüber nach, wie man „Künstler*innen schützen“ könne vor Kritik. Clickbaiting und Polarisierung durch Medien seien das Hauptproblem – den ersten Stein hätte demnach Wiebke Hüster geworfen. Fachkundige und sachliche Kritik – Hüsters Job als Kulturkritikerin – wird gleichgesetzt mit Gewalt.
So wurde Goeckes Angriff, teilweise noch bevor er selbst diese Argumentationsstrategie bediente, als eine Art verständliche Reaktion auf Wiebke Hüsters Texte gelesen, bei der allenfalls die Mittel etwas übertrieben waren – oder „sicher nicht super“, wie Goecke es im NDR-Interview formulierte. Zudem fanden es selbst diejenigen, die den Angriff klar verurteilten, nicht der Erwähnung wert, dass bei dem Vorfall nicht nur ein Ballettdirektor eine Kritikerin angegriffen hatte, sondern nicht zufällig auch ein Mann eine Frau. Dass beide weiß sind, spielte natürlich ebenfalls eine Rolle, worauf unter anderem der Journalist Stephan Anpalagan aufmerksam machte: Was hätte die Öffentlichkeit wohl für eine Debatte über Kultur und Frauenbilder geführt, wenn hier ein Schwarzer Mann, ein muslimischer oder ein Mann of Color eine weiße Frau angegriffen hätte?