Eine Sprache, die zu allen spricht

© Mana Jahangard

Am Anfang spielt das Cello ganz allein – eine atmende Melodie, die zuerst nur aus zwei Tönen besteht und dann immer größer wird. Es klingt, als rufe da jemand in eine Berglandschaft hinein, mit einer leisen Hoffnung auf Antwort irgendwo aus der Ferne. In der iranischen Region Kermanschah wird diese Melodie traditionell am Morgen gesungen – die Komponistin Aftab Darvishi stellte sie vergangenen Juli direkt an den Anfang ihres Debüt-Albums A Thousand Butterflies. Da komme ich her, scheinen diese ersten Sekunden der CD zu sagen, geht damit um, auch wenn es euch fremd ist – der Auftakt wirkt so selbstbewusst wie verletzlich, offenbart einen Einblick in Aftab Darvishis Identität: eine junge iranische Frau, die ihre Stimme erhebt. Eine Künstlerin, die für die Musik ihre Heimat verließ, die nicht den Mund verschließt vor dem Unrecht, das Frauen in ihrem Geburtsland widerfährt. Und als sei es eine Parabel, öffnet sich nach wenigen Sekunden in ihrem Stück Sahar tatsächlich der Blick auf die andere Seite des Tals: Die Melodie resoniert, eine zweite gesellt sich hinzu, spiegelt sie, webt sich kontrapunktisch in die Fragen der ersten hinein.

Das zeichnet ihr Werk aus: Die Verbindung ihrer musikalischen Wurzeln mit dem, was sie im Studium an europäisch geprägten Hochschulen gelernt hat. Zunächst studierte sie Klavier in Teheran, dann ging sie fürs Filmkompositionsstudium nach Amsterdam, später für den Master im Fach Komposition nach Den Haag. Drei Universitäten, drei unterschiedliche Herangehensweisen an die europäische Klassik. Von zu Hause kannte sie die persische klassische Musik, lernte Geige und verschiedene iranische Streichinstrumente: „Mein Vater war Lehrer und Komponist“, erzählt sie im Videogespräch. „Ich habe ihm viel dabei zugeschaut, wie er komponiert hat.“ Mohammad-Reza Darvishi organisierte Festivals in Teheran, lud befreundete Musikerinnen und Musiker zur Familie nach Hause ein: „Manchmal haben sie bei uns zu Hause gewohnt und die ganze Nacht auf ihren Instrumenten gespielt und geübt.“ Egal, was sie komponiere, sagt Aftab Darvishi, „ich kann diese Prägung nicht ignorieren.“

Beim Gespräch sitzt sie in einem grau gestrichenen Raum mit hohen Decken, am Türrahmen im Hintergrund baumelt eine Lichterkette. Die 36-Jährige hat die dunklen Haare lose zusammengebunden, trägt eine runde Brille und ein rot-blau kariertes Hemd. Momentan lebt sie in den Niederlanden, besitzt die niederländische Staatsbürgerschaft – sie pendelt zwischen ihrer kreativen Arbeit in Europa und dem Iran. Zu Hause, das sagt sie, sei für sie kein fester Ort mehr, sondern dort, wo die Menschen sind, mit denen sie verbunden ist. Über konkrete Politik möchte sie an diesem Nachmittag nicht sprechen – aus Furcht, dass dann ihre Kunst im Gespräch zu kurz kommt. Einerseits. Andererseits hat sie Familie und Freundinnen und Freunde im Iran und will bei Besuchen niemanden in Gefahr bringen, auch nicht sich selbst.

Ihre Befürchtung, nicht aufgrund ihrer Kunst, sondern wegen ihrer Situation als iranische Frau gehypt zu werden, ist berechtigt – gerade jetzt. Genauso wenig wie Dirigentinnen noch darüber philosophieren wollen, wie es denn so ist als Frau „in der Männerdomäne“, will sich Aftab Darvishi nun auf eine Rolle als vermeintliche Sprecherin iranischer Frauen und Künstlerinnen reduzieren lassen. Dabei ist ihre Musik durchaus politisch: „Kunst ist immer politisch, oder sagen wir: sozial, das ist vielleicht der bessere Begriff“, sagt sie. „Als Künstlerin ist man von der Gesellschaft beeinflusst. Man müsste sich schon die Augen und Ohren zuhalten und zum Komponieren in seinen Laptop starren – was unmöglich ist. Als Mensch ist man ein Resonanzkörper, reflektiert die Umstände in seinem eigenen Tun.“

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Foto: © Mana Jahangard