Die klassische Musik ist vielleicht die bürgerlichste aller Kunstformen. Doch es gibt auch Formen des Widerstands, die gegen die alltägliche Machtdemonstration auf und hinter der Bühne aufbegehren.
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Mit Beschimpfungen und Buhrufen wurden die Aktivist*innen der Letzten Generation begrüßt, die sich im November 2022 vor Beginn eines Konzerts in der Elbphilharmonie auf die Bühne stellten und am Dirigierpult festklebten. Nur wenige Sekunden dauerte die Aktion, bevor sie von zwei Ordnern beendet wurde – die dafür beklatscht und bejubelt wurden. Wenn klassische Musik mit Protest in Berührung kommt und dieser ein Konzert wirklich zu stören droht, dann versteht das bürgerliche Publikum ganz offensichtlich keinen Spaß. Und auch den Ernst der Lage nicht. Es steht Beethoven auf dem Programm, also soll es bitteschön auch nur Beethoven geben.
Das ist natürlich ein Klischee. Doch tatsächlich scheint es so, dass insbesondere klassische Konzerte, das Publikum in Philharmonie und Opernhaus und deren Dirigent*innen, Sänger*innen und Orchestermusiker*innen mit der Welt da draußen allzu oft nicht viel zu tun haben wollen. Schließlich interpretieren die meisten von ihnen jahrhundertealte Musik aus der Feder vermeintlicher „Genies“ aus einem vergleichsweise winzigen Kanon, in deren heiligen Notentext auf gar keinen Fall eingegriffen werden darf. Hier gibt es sie noch, die kontextbefreite l’art pour l’art, der Elfenbeinturm lässt grüßen.
Feministisch und machtkritisch. Aber es formiert sich auch Widerstand, und zwar schon lange: Widerstand gegen das ritualisierte Stillsitzen, gegen die Beschränktheit des etablierten Kanons, gegen die Aufführung antisemitischer, misogyner und rassistischer Werke und Komponisten, gegen die gewachsenen hierarchischen Strukturen in Orchestern und an Theatern. Es formiert sich Protest gegen die pompösen Architekturen der Häuser, gegen bestimmte Probenpraktiken, gegen zu große, zu aufgeblasene, Ressourcen verschwendende Produktionen, gegen den Geniekult, den Intellektualismus und den Werktreue-Gedanken an sich. Dieser Widerstand ist feministisch, er ist queer, antirassistisch und machtkritisch.
In den vergangenen Jahren, besonders seit der Corona-Pandemie, werden die alternativen Formate, die utopischen Konzepte und hochpolitischen Veranstaltungen, in denen sich diese Kritik formuliert, sichtbarer. Die Bühnen, auf denen sie stattfinden, vergrößern sich. Dabei schwingt immer dieselbe Frage mit: Was bleibt noch von der „klassischen“ Musik, wenn man all das Vielkritisierte von ihr abzieht, wenn man das „Hoch“ von der „Kultur“ subtrahiert, die vielgestaltige Demonstration von Macht und Folgsamkeit aus einer Konzertsituation streicht? Protest ist in der klassischen Musik somit auch immer der Versuch einer Neudefinition dieser Kunstform und ihres Selbstbildes – und das macht ihn so komplex.
Bürgerliche Selbstvergewisserung. In seinem Buch „Musik und Klima“ beschreibt der Komponist Bernhard König, wie das klassische Konzert zum Ort der bürgerlichen Selbstermächtigung und ihrer Inszenierung wurde: Noch im 17. Jahrhundert war „eine besonders prachtvolle und luxuriöse Form der Machtinszenierung […] das fürstliche oder königliche Hofkonzert. Dreh- und Angelpunkt der Veranstaltung war der sitzende Monarch.“ Jahrzehnte später eignete sich das Bürgertum diese Geste an: „Wer sich im 18. und 19. Jahrhundert auf einen Stuhl setzte, um öffentlich Musik zu hören, nahm […] keine ‚bequeme‘ Haltung ein, sondern übte sich vor den Augen der anderen in Selbstbeherrschung.“
Entsprechend, das schreibt die Historikerin Kira Thurman in ihrem Buch „Singing like germans“, ist die Vorstellung von Überlegenheit und Universalität der deutschen Kunstmusik noch heute von zentraler Bedeutung für die deutsche und deutschsprachige Identität. „Der österreichisch-deutsche Musikkanon […] verband paradoxerweise wie kein anderer das Universelle mit der Nation“ – beziehungsweise: mit der nationalen Identität, die zentral mit dem Weißsein verknüpft war. Die Präsenz nichtweißer und Schwarzer Musiker*innen auf der Bühne – deren Identitäten als Gegenteil des weißen Ideals konstruiert wurden – wurde da im besten Fall als Kuriosität, im schlimmsten Fall als existenzielle Bedrohung für die Kunstmusik betrachtet.
Künstlerische Macht. Ähnliches galt für Frauen und feminisierte Personen, sofern sie nicht in den ihnen zugeschriebenen akzeptierten Positionen auftraten, etwa als Pianistin oder Sängerin. Die (natürlich von weißen Männern geschriebene) Musikgeschichte hat etwa Komponistinnen und Dirigentinnen auch deshalb systematisch unsichtbar gemacht. Vor diesem Hintergrund wundert es auch überhaupt nicht, dass Machtmissbrauch durch Dirigenten auch heute zum Alltag gehört: Wohl keine andere Figur verkörpert die Macht des weißen, männlichen Genies konzentrierter als der „Maestro“, der mit einer einzigen Handbewegung alle nach seiner Vorstellung dirigieren kann. Es ist der Inbegriff künstlerischer Macht.
Warum also kennt die Öffentlichkeit heute vor allem Bach, Mozart und Beethoven, Herbert von Karajan, Arturo Toscanini und Carlos Kleiber und nicht etwa Barbara Strozzi, Francesca Caccini und Louise Farrenc, warum nicht die Dirigentinnen Antonia Brico, Mary Wurm und Nadia Boulanger? „Beethoven hat die Bedeutung, die er hat, weil er 200 Jahre lang durch sein Weißsein und Männlichsein gestützt und getragen wurde“, schreibt der Musikwissenschaftler Phil Ewell. Der Kanon vereint ihm zufolge also mitnichten das „Beste“ und „Höchste“, das die Musik jemals hervorgebracht hat – sondern schlicht und ergreifend die Kompositionen derjenigen, die das Privileg hatten, in einer patriarchalen und rassistischen Gesellschaft weiße Männer zu sein.
Den Kanon umschreiben. Hier setzt die vielleicht sanfteste Form des Widerstands in der Klassik ein: bei alternativen Konzertformaten, die die Bühne dezentralisieren. Bei Musiker*innen, Festivals und Häusern, die Werke dieser unsichtbar gemachten Künstler*innen auf Bühnen und CDs bringen. So forscht etwa das „Archiv Frau und Musik“ seit Jahrzehnten nach vergessenen Musikerinnen und schließt immer mehr Wissenslücken.
Oder mit Eingriffen in rassistische, antisemitische und misogyne Texte: Der Verlag „Critical Classics“ hat Anfang des Jahres zusammen mit sensitivity reader*innen beispielsweise eine „Zauberflöte“ „ohne Opfer“, ohne rassistische und sexistische Passagen erarbeitet.
Von hier geht es weiter: Komponistinnen wie Hannah Kendall oder Sara Glojnarić, Initiativen wie das aus mehrheitlich nichtweißen Musiker*innen bestehende Chineke!-Orchestra oder das Jewish Chamber Orchestra Munich, Aktionen wie der Instagram-Account „Opera is racist“, Dirigent*innen wie Brandon Keith Brown, Oksana Lyniv oder Yalda Zamani, Forschende wie Harald Kisiedu oder Tina Frühauf arbeiten unermüdlich daran, die Realitäten nichtweißer, queerer, jüdischer und anders marginalisierter Menschen in der klassischen Musik sichtbar und zum Thema zu machen.
Unter anderem mit dem Magazin „Outernational“ und dem gleichnamigen Festival macht die Kuratorin Elisa Erkelenz diese Ansätze sichtbar und pocht auf einen fundierten politischen, aber auch ästhetischen Diskurs: „Für mich geht es nicht darum, dass Musik unbedingt konkrete politische Messages loswerden soll“, sagt sie im an.schläge-Gespräch, „sondern darum, die Stimme als etwas zu verstehen, das auf natürliche Weise reflektiert, absorbiert, mit der Umwelt verbunden ist.“ Zusammen mit der iranischen Musikerin Golnar Shahyar und der palästinentischen Sängerin und Komponistin Rasha Nahas geht sie beim Outernational-Festival am 30. November und 1. Dezember im Radialsystem in Berlin der Frage nach: „Wie kann man eigentlich singen in so einer Zeit wie heute, wie kann Stimme uns Heilung geben?“
Noch viel vor. Längst sind die großen Häuser, Labels und Festivals auf die erstarkende Widerstands-Welle gegen die diskriminierende Normalität aufgesprungen: Das Deutsche Sinfonie-Orchester (DSO) Berlin warb vergangene Saison mit einer „feministischen Musikpolitik“, derzufolge kein einziges Konzert ohne mindestens ein Werk einer Komponistin stattfinden sollte; bereits im Sommer 2022 hatte das „Lucerne“-Festival „Diversity“ als Motto ausgerufen – und feministische Produktionen wie Florentina Holzingers Opernperformance „Sancta“ werden nach Premieren an kleinen Häusern (Schwerin) jetzt auch von den großen Standorten (Stuttgart) angeworben. Die Frage ist dabei aber wie so oft, wie Hannah Kendall es in einem Interview formuliert: „Wie können wir uns sicher sein, dass dies eine langfristige Veränderung ist?“
Sagen wir mal so: Eine extrem starke, antisemitismuskritische Inszenierung wie Barry Koskys Interpretation der „Meistersinger von Nürnberg“ (2017-2021) in Bayreuth hat keine großen Wellen geschlagen oder eine tiefgreifende, neue Debatte über (den uralten) Antisemitismus in der Klassik ausgelöst. Und es wird vermutlich weiterhin Menschen geben, die sich ohne Skrupel auf der Opernbühne blackfacen, sich weigern unter einer Dirigentin zu spielen oder Petitionen gegen das „Ekeltheater“ starten. Es wird auch immer solche geben, die Tokenism als Reichweiten- und Geldquelle nutzen. Aber es wird auch immer diejenigen geben, die dagegen aufbegehren. Und sie werden mehr – und lauter.
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