„Also das haben wir noch nie erlebt.“ Frederieke Möller, die Intendantin des Orgelfestivals in Düsseldorf, steht in der großen Kirche St. Antonius zwischen den Bänken. Hier spielt Anna Lapwood am Samstag ihr Konzert. Orgelmusik – nichts, wo man ein Massenphänomen vermuten würde. „Wir haben im Vorfeld schon so viele Anfragen gekriegt, da hatten wir den Kartenvorverkauf überhaupt noch nicht gestartet.
Anna Lapwoods Konzerte sind besonders in diesem Jahr zu regelrechten Großveranstaltungen mutiert – aber warum? Fangen wir vorne an – bei ihrem TikTok-Account.
Das ist ein Mitschnitt, den sie selbst hochgeladen hat. Sie sitzt im Glitzerjackett auf der Orgelbank in der Royal Albert Hall und hat das Telefon neben sich auf das Pult gestellt, filmt sich selbst. Unten spielt der international sehr bekannte Musiker und Produzent Bonobo ein Konzert. Was das Publikum nicht weiß: Er hat sich spontan am gleichen Tag dazu entschieden eine Orgelstimme für eines seiner Stücke zu schreiben – nachdem er Anna Lapwood in der Halle hat üben hören. Gleich setzt sie ein – und 6000 Menschen brechen in spontanen Jubel aus:
In einem Gespräch vergangenen Dezember bezeichnet Anna Lapwood diesen Moment als den Beginn ihres gigantischen Social-Media-Durchbruchs: „Es hat niemand damit gerechnet, nicht einmal die Leute auf der Bühne, das Orchester wusste nicht, dass ich spielen würde, und als die Orgel eingesetzt hat, sind alle völlig ausgeflippt, und ich hab da gesessen und geweint, weil ich nicht wusste, dass Musik so etwas mit mir machen kann. Seitdem kommen Leute zu meinen Konzerten, die noch nie bei einem klassischen Konzert waren, die mich durch dieses Video entdeckt haben.“
Mittlerweile hat Anna Lapwood auf TikTok und Instagram jeweils 1,4 Millionen Followerinnen und Follower. Das ist mehr als die meisten anderen berühmten klassischen Musikerinnen und Musiker: Yuja Wang folgen gerade 481.000 Menschen bei Instagram, Anne-Sophie Mutter hat 140.000 Follows, Igor Levit ist bei 116.000.
„Das ist ja auch eine Art von Vermittlung eigentlich, die sie betreibt, indem sie wirklich auch Stücke kommentiert in diesen TikTok-Videos“, sagt Markus Hinz – der Organist von St. Antonius in Düsseldorf. „Und sie hat ja eigentlich auch ein eigenes Genre damit erfunden. Oder so ist da wirklich auch in der Beziehung Avantgarde, muss man sagen. Und von der Musik, die sie selber auf die Orgel bringt, ist es natürlich auch Interstellar, Hans Zimmer. Das sind also wirklich… Dinge, die die Massen einfach toll finden im Moment. Und ich muss auch sagen, sie mag auch minimalistische Musik gerne und da trifft sie auch meinen Geschmack, muss ich sagen.“
Anna Lapwood nimmt ihre Followerinnen und Follower mit in Übesituationen, in nächtliche Kirchen, hat das Handy im Livestream dabei, wenn sie mit anderen Leuten ins Gespräch kommt und für sie auf Wunsch kleine Stücke spielt – sie filmt sogar live mit, wenn sie in der Royal Albert Hall ein riesengroßes Konzert spielt:
Außerdem erklärt sie ganz viel über das Orgelspiel selbst: Was machen Organistinnen eigentlich mit ihren Füßen? Wofür sind die vielen verschiedenen Knöpfe da? Wie klingt es, wenn sie die gleiche Stelle in einem Stück mit anderen Registern spielt? Das alles macht sie auf sehr nahbare und sympathische Art und Weise. „Sie hat einfach eine große Strahlkraft“, sagt Frederike Möller. „Sie kann toll spielen und sie setzt all das dafür ein, dieses Instrument nochmal in ein ganz anderes Licht zu setzen, aber vor allem eben Leute mit ihrer Musik zu begeistern.“
Und jetzt kommen wir zur Musik, denn die spielt eine große Rolle für den Hype: Anna Lapwood spielt wenig aus dem typischen klassischen Orgelrepertoire – wenig Bach, wenig Max Reger oder César Franck. Stattdessen berühmte Soundtracks aus Filmen wie „Interstellar“, „Star Wars“, „Fluch der Karibik“ oder „Peter Pan“.
Dieser Hype schwappt nun mehr und mehr aus dem digitalen Raum in die realen Konzerthallen und Kirchen – ausgerechnet zu den Menschen, die eigentlich daran gewöhnt sind, dass das Publikum eher klein ist. Und dann passieren auf einmal Dinge wie vergangenes Jahr in Dortmund oder dieses Jahr im Kölner Dom oder jetzt in Düsseldorf: Menschen reißen den Veranstaltern die Tickets förmlich aus den Händen, stehen teils kilometerlang Schlange, es müssen zusätzliche Stühle herbeigeschafft werden, alles verzögert sich, und am Ende stehen und sitzen Hunderte bis Tausende in einer Kirche und hören fasziniert den Orgelklängen zu.
„Ich weiß, dass es auch durchaus in der Orgelwelt auch, dass sie eine Person ist, die polarisiert und da scheiden sich die Geister“, sagt Markus Hinz. „Dann wird halt gesagt, dass ich übe hier meinen Reger, ich übe hier meinen, ich weiß nicht, vielleicht spielt sie ja auch Reger. es wird so ein bisschen die Qualität abgesprochen. Also es gibt, das sollte ein anderes Kriterium sein, was gute oder schlechte Musik ist. Deswegen finde ich, das ist eine blöde Neiddebatte.“
Diese Kritik kennt auch Anna Lapwood. Im Interview im Dezember sagt sie: „Ich bekomme viel verschiedene Kritik zu hören. Aber wie definieren wir, was gute Musik ist und was weniger gute Musik, aus welchem Grund auch immer? Nur weil sie zur Untermalung von Bildern geschrieben wurde, heißt das nicht, dass sie weniger gut ist. Mein Publikum ist enorm gewachsen, und die Besucherinnen kommen dann auch zu den ‚ernsten‘ Konzerten, in Anführungszeichen, wo ich keine Filmmusik mache. Das ist ein Tor, und wir müssen so vorsichtig sein, wie wir darüber reden, weil wir ihnen das Tor sonst direkt wieder vor der Nase zuschlagen.“
Vielleicht ist auch das ein großer Teil ihres Erfolgs: Anna Lapwood nimmt ihr Publikum ernst. Auf diese Weise holt sie mit ihrer nahbaren Art, ihrem Spiel und ihrem Social-Media-Content über Orgelmusik die vermeintlich so intellektuelle und komplizierte Klassik auf den Boden der Tatsachen zurück. Und das ist ein echtes Geschenk.
