Im Innern der großen Stille

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DONNERSTAG, 23.10.2025
23:03 BIS 00:00 UHR

Zitat (Hosokawa): „Ich kann mich von meiner Jugendzeit her an den weithin schallenden Klang der Zikaden erinnern. Unter blauem Himmel, wenn die Sonne im Hochsommer fast schmerzhaft brennt, ertönen die Zikadenstimmen. Ich selbst, klein, mit einem Strohhut als Kopfbedeckung, werde von der hochsommerlichen Sonne beschienen und werfe einen dunklen Schatten auf den Erdboden. Wenn ich eine solche Landschaft in das Wort ‚Stille‘ hineinzulegen versuche, lassen die Stimmen der Zikaden den mythischen, tiefen Klang noch stärker empfinden. Vermutlich komponiere ich, indem ich nach einem solchen ‚Tongedächtnis‘ suche und nach ‚Tönen, die sich tief in den Körper eingemeißelt haben‘.“

Toshio Hosokawa wird 1955 in Hiroshima geboren – in einer Stadt, die nur zehn Jahre zuvor die Hölle auf Erden erlebt hat.

Archivradio„A mountain of smoke was going up in a mushroom with a stem coming down. At the top, Captain Parson continued, was white smoke, but up to a thousand feet from the ground, there was a swirling, boiling dust. Soon afterwards, small fires sprang up on the edge of the town, but the town itself was entirely obscured. We stayed around for two or three minutes, and by that time, the smoke had risen to 40,000 feet.“ / “Eine Rauchwolke stieg auf, in Form eines Pilzes, mit einem Stiel, der zum Boden reichte. An der Spitze befand sich weißer Rauch, aber bis zu einer Höhe von tausend Fuß über dem Boden wirbelte und brodelte Staub. Bald darauf brachen am Rande der Stadt kleine Brände aus, aber die Stadt selbst war vollständig verdeckt. Wir blieben mit unserem Flugzeug zwei oder drei Minuten lang in der Nähe, und zu diesem Zeitpunkt war der Rauch bereits auf 40.000 Fuß gestiegen.“

: Toshio Hosokawas Eltern erleben  diesen Horror am eigenen Leib mit.

Hosokawa: „Also ich hatte diese Katastrophe um meine Mutter-Generation, meine Vater-Generation, die diese Katastrophe in Hiroshima erlebt (hat).“

 Das sagt Toshio Hosokawa Mitte Oktober in einem Video-Interview. Er ist in Japan, wir haben uns über die Zeitzonen hinweg zusammengeschaltet. Er sitzt in einem wenig ausgeleuchteten Raum vor seinem Laptop und schaut konzentriert auf den Bildschirm. Hat der Atombombenabwurf in Hiroshima seine Kindheit geprägt? Auf diese Frage antwortet der Komponist überraschend – es sei eigentlich kein Thema gewesen. Anders als in Europa:

Hosokawa: „Ich habe eine sehr glückliche Familie gehabt. Und wenn ich nach Europa komme, dann viele Leute haben mich gefragt, woher ich komme. Und wenn ich dann gesagt habe, ich komme aus Hiroshima, dann haben sie sehr stark reagiert. Dann habe ich angefangen, über Hiroshima nachzudenken.“

„Sein“ Hiroshima, das Hiroshima seiner Kindheit, war – entgegen der wohl ersten Assoziationen – ein Ort der blühenden Natur, reich an Klängen, erfüllt von Ruhe. Michael Kurtz beschreibt die Szenerie in einem Porträt über den Komponisten:

Zitat: „im Frühling die Stimmen der vielen kleinen Vögel, in der Regenzeit das Quaken der Frösche, im späteren Sommer die alles übertönenden Stimmen der Zikaden, und im Herbst die intensiven Laute der Insekten. Wenn der Junge vom Stadtleben erschöpft war, fand er im Donnern der Brandung oder im Plätschern des Flusses wieder sein Gleichgewicht.“

Für Toshio Hosokawa war diese intensive Naturerfahrung ein wichtiger Grundstein für seine Entscheidung Komponist zu werden. Bis heute spielt die Natur in seinem Denken und seiner Musik eine große Rolle. Er schreibt:

Zitat: „die Klänge der NaturweIt, die ich gewiß eher unbewußt hörte, haben einen so entscheidenden, tiefen Einfluß auf mich ausgeübt, daß ich Komponist wurde. […]“ 

In seinem Essay „Aus der Tiefe der Erde. Musik und Natur“ aus dem Jahr 1998 beschreibt Toshio Hosokawa seinen Ansatz noch konkreter:

Zitat: „Mein Interesse ist: Wie höre ich die Klänge der Natur? Die Frage weist auf meine Beziehung zur Natur hin. Sie scheint eine andere zu sein als zum Beispiel die Haltung, mit der Beethoven, ergriffen von der Natur, seine Pastorale schrieb oder Messiaen Vogelstimmen in Noten setzte und die Musik zur Vollendung brachte. Wie man Töne hört, weist sehr deutlich auf [die] Kultur [einer Gesellschaft] hin und weiter auf die Art und Weise der Beziehung [dieser Gesellschaft] zur Natur. Selbst wenn es die gleichen Töne sind, werden sie von [jedem Menschen] anders rezipiert. Ich frage, wie diese Rezeption beschaffen ist. Und wie kann ich sie weiterentwickeln? Ich finde, daß es die Rolle des Komponisten ist, in einer engen Beziehung zur Natur – über Konventionen hinaus – eine Entwicklung dieser Rezeption zu bewirken.“

Der Kern dieses Klangs der Welt, der „über die Erde schallt“, ist seine Negation: Wir befinden uns „im Innern [einer] großen Stille“, schreibt der Komponist.

Hosokawa: „wenn ich auf der Note schreibe, dann mache ich eine Pause. Zum Beispiel, ein Ton existiert nur mit der Pause, mit dem Zwischenraum. Ohne diese Pause lebt es nicht.“

Töne sind in seiner Theorie gleichzeitig Klang und Schweigen – sie kommen aus dem Nichts und gehen ins Nichts zurück. Hosokawa vergleicht Klänge mit japanischer Kalligrafie: Bei dieser Schriftkunst geht es nicht allein ums Schönschreiben, sondern um die Bewegung des Pinsels in einem Zustand höchster Konzentration. Der Schreibende hält gleichzeitig die Konventionen ein und drückt seine eigene Persönlichkeit aus:

Hosokawa: „Ich habe gesagt, dass meine Musik eine Kalligrafie auf der Zeit und Raum sei. Ich mache eine Linie, also ich singe eine musikalische Linie auf dem Schweigen. Damit ein Einzelton leben kann. […] Bei Kalligrafie ist diese weiße leere Fläche sehr, sehr wichtig. Und Linie und weiße Fläche sind gleich. (Weiß) ist sehr wichtig. […] Nicht nur die Linie selbst wichtig, sondern hinter den Linien ist auch sehr wichtig. Wir sagen im japanischen Ma. Das ist der Zwischenraum.“

Toshio Hosokawas Musik beginnt genau wie die japanische Schriftkunst schon lange bevor man den ersten Ton hört, bevor der Pinsel das Papier berührt. Sie kommt aus der Stille, und sie geht immer in die Stille zurück – wie sein Trompetenkonzert „Im Nebel“ von 2013 …

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